Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

939 Schorlemer-Alst. 940 
suchte Aufklärung über die bäuerlichen Zustände Breuker die Gründung eines ähnliche Ziele er- 
im Verkehr mit dem Volk. strebenden Vereins zustande, und Breuker legte 
Wenn ihm als Offizier infolge seines frischen die sozialen Mißstände, die den Bauernstand in 
Wesens und seines hübschen, vornehmen Außern seiner Existenz bedrohten, in einem Schriftchen 
von den Kameraden Liebe und Freundschaft all-= dar unter dem Titel „Buer, et is Tied!“ Das 
gemein entgegengebracht worden waren, so war es Beispiel des Steinfurter und Recklinghausener Ver- 
jetzt seine offenherzige Natürlichkeit, seine Leutselig= eins gab dann den Anstoß zur Bildung ähnlicher 
keit und sein gesunder Humor, welche ihn in den Vereine in vielen Kreisen Westfalens, so daß Ende 
Kreisen der ländlichen Bevölkerung beliebt machten. der 1860er Jahre die Mitgliederzahl der sämt- 
Eine Fähigkeit, die ihm zeitlebens zur Verfügung lichen westfälischen Bauernvereine annähernd wohl 
stand und sowohl bei seinen theoretischen Studien 10 000 betragen haben mag. 
wie bei seinen Beobachtungen im Leben, später auch Die Ansicht Schorlemersging von Anfang an da- 
in parlamentarischen und andern Debatten sehr zu hin, daß die Vereine nicht konfessionell zu gestalten, 
statten kam, war sein besonderes Geschick, mit wohl aber auf christlicher Grundlage aufzu- 
schnellem Blick den springenden Punkt und bauen seien — Angehörige der beiden christlichen 
Kern einer Sache, mochte sie auch noch so ver= Bekenntnisse von unbescholtenem Lebenswandel 
wickelt und mit Nebensächlichkeiten verbrämt sein, können Mitglieder werden — und daß sie nur den 
zu treffen. Groß war auch sein Geschick, seine landwirtschaftlichen und bäuerlichen Interessen 
Kenntnisse praktisch im gegebenen Fall zu ver= dienen, von Politik aber sich fernhalten sollten. 
werten und schnell zu erfassen, was unter gegebenen Der damalige Oberpräsident der Provinz West- 
Verhältnissen zu tun sei. falen, v. Kühlwetter, aber hegte trotzdem Miß- 
Zu den Fragen, auf welche Schorlemer durch trauen gegen die Bauernbewegung; unter dem 
das Studium der Agrargeschichte und durch die 10. Aug. 1871 wurden sämtliche in Westfalen be- 
Beobachtung der Zustände in der zeitgenössischen stehenden Bauernvereine von der Regierung in 
Landwirtschaft hingewiesen wurde, gehörten in= Münster für politische Vereine erklärt und den 
sonderheit die Verschuldungsfrage, das Landräten wurde aufgegeben, dieselben sorgfältig 
Erbrecht und die ländliche Arbeiterfrage. zu überwachen. Im Verfolg dieser Bestimmung 
Immer mehr drängte sich ihm aber auch die Uber= wurde natürlich der § 8 des geltenden Vereins- 
zeugung auf, daß neben wirtschaftlichen Einrich= gesetzes, nach welchem politischen Vereinen die 
tungen zur Besserung der äußeren Verhältnisse Unterhaltung von gegenseitigen Verbindungen 
des Bauernstands erziehliche Maßnahmen zur untereinander verboten war, auch auf die west- 
Förderung des geistig-sittlichen Fortschritts und fälischen Bauernvereine angewandt. Dieses Vor- 
zur Hebung des bäuerlichen Selbstbewußtseins gehen hing mit dem Kulturkampf zusammen. Da 
nötig seien, sollte anders der Bauer nicht sein erließ Schorlemer ein Schreiben an die Vereine 
kerniges und einfaches Wesen einbüßen und damit mit dem Ersuchen, sich innerhalb acht Tagen sämt- 
sein ganzes Dasein in Frage stellen. Scheinbar lich aufzulösen, zugleich beraumte er auf den 
belanglos, aber doch von großem Einfluß auf das 30. Nov. 1871 in Münster eine allgemeine 
Gebaren der Landwirte erschien Schorlemer die Bauernversammlung an. Dieselbe war von meh- 
weit verbreitete Denkweise, welche sich darin be= reren Tausenden von Landwirten besucht und es 
kundete, daß der Bauer seinen Namen „Bauer“ wurde der Beschluß gefaßt, von einzelnen örtlichen 
nicht mehr als einen Ehrentitel ansah, sondern Vereinen abzusehen und für den Bereich der 
durch andere Bezeichnungen zu ersetzen strebte ganzen Provinz Westfalen einen großen 
Anderseits aber wußte Schorlemer wohl, daß der Bauernverein unter dem Namen „Westfälischer 
einzelne Landwirt gegenüber solchen Zeitströ- Bauernverein“ zu gründen mit dem Zweck, seine 
mungen machtlos und eine Anderung der Zustände Mitglieder in sittlicher, geistiger und wirtschaft- 
nur durch einiges Vorgehen weiter Kreise sich er= licher Hinsicht zu heben und zu einem kräftigen 
möglichen läßt. Bauernstand zu vereinigen, welcher sich bestrebt, 
Ein Beweis, daß der Gedanke von der Not= den bäuerlichen Grundbesitz zu erhalten und alle 
wendigkeit einer Zusammenfassung der Kräfte des zu diesem Zweck erforderlichen Maßnahmen zu 
Bauernstandes in der Luft lag. liegt in folgender ergreisen. Dieser mächtige Verein besteht noch 
Erscheinung. Im Jahr 1862 erschien die Bro= heute und ist das Muster für die sämtlichen 
schüre: „Die Lage des Bauernstandes in West= Bauernvereine geworden. 
falen und was ihm not tut“ von Frhrn v. Schor-= Eine der wichtigsten Einrichtungen, welche der 
lemer, und unter dem 10. Juni desselben Jahrs Tätigkeit des Vereins zu verdanken ist, dürfte 
fand auf seine Anregung in Wettringen die wohl die Schaffung eines den bäuerlichen Ver- 
Gründung des Steinfurter „Bauernvereins“ mit hältnissen von Westfalen angepaßten Erbrechts 
37 Mitgliedern statt, welche Vereinigung im No= sein. Der Grundgedanke war, die freie Verfügung 
vember desselben Jahrs bereits 215 Mitglieder über den Besitz seitens des Eigentümers bei Leb- 
zählte. Fast gleichzeitig und unabhängig von dem zeiten wie von Todes wegen aufrechtzuerhalten, bei 
Steinfurter Vorgehen kam in Kirchhellen im Kreis dem Mangel eines Testaments oder anderweitiger 
Recklinghausen auf Anregung des Landwirts Verfügung aber den Übergang aller Höfe, welche 
 
	        
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