Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Parteigenossen heraus wurde der Befürchtung 
Ausdruck verliehen, daß bei Befolgung der Schor- 
lemerschen Ansichten die Zentrumspartei außer- 
stande sein werde, in ausgleichender Ge- 
rechtigkeit die Interessen aller Stände zu 
vertreten. Diese Verschiedenheit der Anschauungen 
führte dahin, daß Schorlemer, als er mit seinen 
betreffenden Anträgen auf der großen Versamm- 
lung der Vertrauensmänner der westfälischen 
Zentrumspartei im Rathaus zu Münster nicht 
durchdringen konnte, diese Versammlung in Be- 
gleitung seiner Anhänger verließ, mit der Partei 
vollständig brach, in drei westfälischen Zentrums- 
wahlkreisen Sonderkandidaten für den Reichstag 
aufstellen ließ und hauptsächlich dem „Westfälischen 
Merkur“ gegenüber die Gründung einer besondern, 
den Interessen der Landwirtschaft vornehmlich zu- 
gewandten Zeitung „Der Westfale“ in Münster 
veranlaßte. Schorlemer war aus tiefster Seele von 
der überragenden soziologischen Bedeutung des 
Bauernstandes überzeugt und glaubte demnach in 
der damaligen Haltung der Zentrumspartei die 
Interessen der Landwirtschaft nicht in dem Maß 
gewahrt, wie er es für nötig hielt. Nur aus diesem 
Gesichtswinkel ist sein Vorgehen überhaupt psycho- 
logisch verständlich. 
Seit dem Jahr 1893 entwickelte sich bei ihm ein 
Herzleiden, welches ihm viele Qualen bereitete. 
Trotzdem folgte er einer Einladung zur 41. Ge- 
neralversammlung der Katholiken Deutschlands in 
Köln, wo er am 27. Aug. 1894 eine mit großem 
Beifall aufsgenommene Rede über den Mittelstand 
und seine Erhaltung hielt. Eine Influenza, zu 
welcher Lungenentzündung hinzutrat, brachte ihn 
im März 1895, als die in den vorhergehen- 
den Jahren besorgniserregenden Krankheitserschei- 
nungen scheinbar im Schwinden begriffen waren, 
  
in unmittelbare Lebensgefahr. Gottergeben und 
ruhig sah er den kommenden Dingen entgegen 
und antwortete auf die Außerung seiner Um- 
gebung mit voller Klarheit: „Wenn der Höchst- 
kommandierende ruft, muß man folgen.“ Sehr 
glücklich war er in den letzten Tagen seines Lebens 
über den Segen des Papstes, welcher ihm durch 
den Bischof von Münster übermittelt wurde, 
und eine große Freude bereitete ihm ein Tele- 
gramm des Deutschen Kaisers, welches ihn noch 
bei Bewußtsein traf. Frhr v. Schorlemer starb 
am 17. März 1895. Schon sieben Jahre später 
konnte vor dem neuen Landeshause in Münster 
das überlebensgroße Standbild enthüllt werden, 
welches der Westfälische Bauernverein seinem 
Gründer, dem „Bauernkönig“, wie man ihn 
nannte, gewidmet hat. Vgl. auch d. Art. Bauern- 
vereine Bd I, Sp. 627 ff. 
Literatur. Ferdinande Freiin v. Brackel in 
der „Köln. Volksztg.“ 1902, Nr 240; Faßbender, 
Bauernvereine u. Lage der Landwirtschaft (1888); 
ders., im „Deutschen Hausschatz“, Jahrg. 1895; 
Buer, Festschrift zur Enthüllungsfeier des Schor- 
lemerdenkmals (1902). [Faßbender.) 
Schulwesen — Schulze-Delitzsch. 
  
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Schulwesen s. Unterrichtswesen, Volks- 
ule. 
Schulze-Delitzsch, Hermann. Nach dem 
Vorgang von Victor Aimé Huber, welcher im 
Jahr 1844 zuerst in England auf die große Be- 
deutung des Genossenschaftswesens aufmerksam 
wurde und in den folgenden Jahren in einer ganzen 
Reihe von Schriften auf die Wichtigkeit der Asso- 
ziation für die verschiedenen Berufsstände auch in 
Deutschland hinwies (vgl. über Huber und seine 
Schriften Munding, Ausgewählte Schriften Hu- 
bers über Sozialreform und Genossenschaftswesen, 
1894), war es Schulze-Delitzsch, welcher das 
Verdienst hat, vom Jahr 1850 ab zuerst in 
Deutschland das Genossenschaftsprinzip im wei- 
teren Rahmen ins Leben eingeführt, die allgemein 
anwendbare Rechtsform der Genossenschaftsidee 
gefunden sowie auch als Genossenschaftstheoretiker 
in seinen Schriften Hervorragendes geleistet zu 
haben (vgl. über Genossenschaftswesen im allge- 
meinen d. Art. Erwerbs= und Wirtschaftsgenossen- 
schaften). · 
Schulze wurde am 29. Aug. 1808 zu Delitzsch, 
einem kleinen Städtchen in Sachsen, geboren. In 
seiner Jugend machte auf ihn großen Eindruck 
der Großvater mütterlicherseits Karl Gottlob 
Schmorl, dessen Energie, Arbeitskraft und frei- 
mütiges Wesen auf den Enkel übergingen, sodann 
der Gehilfe seines Vaters, Aktuar Lehmann, der 
dem Jüngling Lehrer und Freund, Muster des 
Fleißes und Vorbild treuer Herzlichkeit wurde, 
und endlich gewann großen Einfluß auf ihn der 
freisinnige Geistliche Archidiakonus Morgenstern, 
der den Vorbereitungsunterricht leitete, ehe Schulze 
zur Nikolaischule in Leipzig kam. Mit 18 Jahren 
bezog er sodann die Universität Leipzig, um Jura 
zu studieren. Nachdem er noch die Universität 
Halle besucht und sein juristisches Examen gemacht 
hatte, wurde er im Alter von 22 Jahren zum 
Auskultator in Torgau und im Jahr 1833 zum 
Assessor beim Kammergericht in Berlin ernannt. 
Schulzes Wunsch ging dahin, gleich seinen 
Vorfahren in Delitzsch zur Ausübung der Patri- 
monialgerichtsbarkeit berufen zu werden. Die 
Stellung eines Patrimonialrichters vereinigte in 
sich die Lösung von Verwaltungsaufgaben und 
richterlicher Tätigkeit, und man könnte sie am zu- 
treffendsten wohl als eine Vereinigung des Bürger- 
meister= und Richteramts bezeichnen. Für einen 
gemeinnützig strebsamen Sinn konnte die Stelle 
begehrenswert erscheinen, da sie mannigfaltige Ge- 
legenheit bot, nicht nur die Bedürfnisse des kleinen 
Bürgerstands kennen zu lernen, sondern auch auf 
den verschiedensten Gebieten eingreifende Hilfe zu 
gewähren. Es gelang Schulze, nachdem er seinen 
erkrankten Vater eine Zeitlang im Amt vertreten, 
1841 definitiv in Delitzsch mit der Patrimonial- 
gerichtsbarkeit betraut zu werden. In den folgen- 
den Jahren machte er größere Reisen, so 1841 
nach Tirol und Salzburg, 1842 zu längerem 
Aufenthalt nach München, 1843 nach Norwegen
	        
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