Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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9) Die Verwendung von Arbeiterinnen kann 
durch den Bundesrat für bestimmte Fabrikations- 
zweige, welche mit besondern Gefahren für Ge- 
sundheit und Sittlichkeit verknüpft sind, untersagt 
oder von besondern Bedingungen abhängig ge- 
macht werden (§ 139 a). Solche Beschränkungen 
sind vorgesehen zunächst für dieselben Betriebe wie 
bezüglich der jugendlichen Arbeiter; außerdem noch 
für Rohzuckerfabriken und Raffinerien, sowie Zink- 
und Bleierzbergwerke und Kokereien im Regic- 
rungsbezirk Oppeln u. a. — Ausnahmen bezüg- 
lich der Arbeitszeit (z. B. wegen außergewöhn- 
licher Häufung der Arbeit) können für einzelne 
Betriebe durch die untere Verwaltungsbehörde 
(für höchstens zwei Wochen) oder durch die höhere 
Verwaltungsbehörde (bis zu 50 Tagen) gewährt 
werden (8 138 a). Der Bundesrat ist berechtigt, 
Ausnahmen allgemein für bestimmte Arten von 
Betrieben (Betriebe mit ununterbrochenem Feuer, 
Kampagne= und Saisonindustrien) zuzulassen 
(& 139 a), mit der Maßgabe, daß auch hier be- 
züglich der Arbeitszeit eine Maximalgrenze für die 
Woche — für Kinder 36, für junge Leute 60, für 
Arbeiterinnen 58 Stunden — bestehen bleibt. 
Solche Ausnahmen sind zugelassen für Arbeite- 
rinnen in Drahtziehereien mit Wasserbetrieb, Roh- 
zuckerfabriken und Zuckerraffinerien, Steinkohlen= 
bergwerken, Meiereien, Gemüse-, Obst= und 
Fischkonserven usw., Zink= und Bleierzbergwerken 
und Kokereien im Regierungsbezirk Oppeln. 
So erfreulich die Fortschritte unserer Arbeiter- 
schutzgesetzgebung sind, soweit die unverehelichten 
Arbeiterinnen in Betracht kommen, so bedauerlich 
ist es, daß dieser Schutz fast ganz versagt, soweit 
die besondern Bedürfnisse der verheirateten 
Frauen Rücksicht heischen. Hier ist als bedeu- 
tungsvoll nur der Schutz der Wöchnerinnen an- 
zuerkennen. Die längere Mittagspause kommt nur 
zur Geltung, soweit die allgemeine Mittagspause 
nur eine Stunde beträgt und auch dann nur, so- 
weit der Heimweg möglich ist und der Arbeitgeber 
oder Meister keine Schwierigkeiten machen. Bei 
Gefahr der Kündigung wird die verheiratete Ar- 
beiterin selten auf ihrem Antrag bestehen. Und 
doch ist ein erhöhter Schutz der verheirateten 
Frauen in der Industrie eine Lebensfrage für die 
Zukunft unseres Volks. 
Die regelmäßige volle Beschäftigung der Haus- 
frau und Mutter läßt sich mit den Bedingungen 
eines geordneten Familienlebens überhaupt nicht 
vereinigen. Sie gehört an den häuslichen Herd, zu 
ihren Kindern; hier liegt der Kreis der Pflichten, 
die sie zunächst zu erfüllen hat. Schon Bischof 
Emanuel v. Ketteler hat in ergreifender Weise die 
Gefahren der Fabrikarbeit verheirateter Frauen 
dargelegt und den Ausschluß derselben aus der 
Fabrik verlangt (Die Arbeiterbewegung und ihr 
Streben im Verhältnis zur Religion und Sittlich- 
keit I18691)). Dr Schwartz, Medizinal= und Re- 
gierungsrat in Köln, kommt vom Standpunkt der 
praktischen Hygiene zu demselben Resultat: die 
Frau gehört an den häuslichen Herd (Korreferat 
für die hygienische Sektion der 58. Versammlung 
  
Schutzgesetze, gewerbliche. 
  
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deutscher Naturforscher und Arzte in Straßburg, 
mitgeteilt in der „Vierteljahrsschrift für öffentliche 
Gesundheitspflege“ 1886, Hft 1). 
Er führt aus: „Die wichtigsten Aufgaben der 
öffentlichen und privaten Gesundheitspflege können 
nach meiner Erfahrung überall nur dann gelöst 
werden, wenn die Familienverbände richtig organi- 
siert find und die einzelnen Glieder der Familie ihre 
natürlichen Pflichten gegeneinander erfüllen. Nun 
fällt aber unzweifelhaft dem Mann, als dem Haupt 
der Familie, auch die natürliche Pflicht zu, die 
Familie zu ernähren, das Brot zu schaffen, nötigen- 
falls durch die ausgedehnteste Tätigkeit nach außen, 
während die Frau das Haus hüten, besorgen, dem 
Mann eine Gehilfin, den unerwachsenen Kindern 
eine Pflegerin und Erzieherin sein soll. Wir alle 
kennen ja schon aus unserer Jugend den Gesang 
unseres deutschen Nationaldichters: „Der Mann 
muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und 
streben und pflanzen und schaffen; doch drinnen 
waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kin- 
der, und regt ohne Ende die fleißigen Hände und 
mehrt den Gewinn mit ordnendem Sinn." Diesen 
ihren natürlichen Beruf, Hüterin und Ordnerin 
des Hauses, Pflegerin des Mannes und der Kinder 
zu sein, kann die verheiratete Frau aber nicht er- 
füllen, wenn sie vom frühen Morgen bis zum späten 
Abend in einer entfernten Fabrik beschäftigt ist und 
ihre unerzogenen Kinder fremder Pflege, den sog. 
Krippen oder sonstigen Kinderbewahranstalten, 
übergeben muß. Jeder beschäftigte Fabrikarzt wird 
es bestätigen, daß durch diese unnatürliche Trennung 
der verheirateten Frau vom häuslichen Herd nicht 
nur der Gesundheit der Frau und ihrer kleinen 
Kinder, sondern auch, wie ich aus eigner Erfahrung 
hinzusetzen muß, die Gesundheit des Mannes in 
hohem Grad gefährdet und oft dauernd unter- 
graben, also das ganze Familienwohl zerstört wird. 
Soll die Frau eines Arbeiters im eignen Haus- 
wesen ihre Pflichten erfüllen, den Wohnraum, der 
so häufig auch gleichzeitig zum Kochen und Schlafen 
dienen muß, notdürftigst gereinigt, gelüftet, geord- 
net und erwärmt halten, soll sie Bett= und Leib- 
wäsche, Kleidungsstücke ausbessern und reinigen, 
gesunde Kost für die ganze Familie bereiten, sogar, 
wie solches auf dem Land erforderlich, Gemüse- 
garten bestellen und die Haustiere verpflegen, um 
gesunde Nahrung zu erhalten, dann ist Zeit und 
Kraft einer solchen Arbeiterfrau derartig in An- 
spruch genommen, daß ihr eine noch weitere Be- 
schäftigung in Fabriklokalen ohne mehr oder we- 
niger vollständige Vernachlässigung ihrer häuslichen 
Pflichten unmöglich ist. Dazu kommt, daß nach 
naturgemäßem Verlauf der Dinge die Arbeiter- 
frauen in der Regel sich entweder im Zustand der 
Gravidität, des Puerperiums oder der Laktation 
befinden und durch die mit den genannten Vor- 
gängen verbundenen Leiden und Beschwerden in 
ihrer Arbeitsfähigkeit in mannigfachster Art ge- 
hemmt sind. Alle Lasten, welche in den bemittelten 
Ständen sich verteilen auf Mägde, Köchinnen, 
Wäscherinnen, Ammen, Wärterinnen, sog. Stützen 
der Hausfrau und wie der sonstige lebendige Hilfs- 
apparat noch heißen mag, alle diese Lasten müssen 
von der Arbeiterfrau, welche ihre Pflichten gegen 
Mann und Kinder erfüllen will, allein getragen 
werden. Wird nun eine derartig durch ihre häus- 
lichen Arbeiten bereits überlastete Frau noch in 
entlegener Fabrik beschäftigt, so muß sie entweder
	        
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