Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Pflege des Familienlebens, der Geselligkeit, der 
Bildung usw., in gesteigertem Maß teilnehmen zu 
lassen. So dürfte wohl der zehnstündige Maximal- 
arbeitstag als eine berechtigte, dem Stand der 
heutigen Produktion und Kultur entsprechende 
Forderung bezeichnet werden. — Einen gesetzlichen 
Maximalarbeitstag für erwachsene Arbeiter — und 
zwar für Fabriken — haben bisher nur Frank- 
reich (seit 1848, und zwar von 12 Stunden), die 
Schweiz (seit 1878, von 11 Stunden) und Öster- 
reich (seit 1885, von 11 Stunden). In Deutsch- 
land besteht nur der sog. „sanitäre Maximal- 
arbeitstag“, und zwar kraft Vollmacht des Bundes- 
rats. Gemäß der Gew.O.-Novelle (§ 120 e) von 
1891 können nämlich durch Bundesratsbeschluß 
„für solche Gewerbe, in welchen durch übermäßige 
Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit 
der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und 
Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit und der 
zu gewährenden Pausen vorgeschrieben und die 
zur Durchführung dieser Vorschrift erforderlichen 
Anordnungen erlassen werden“. Solche Verord- 
nungen sind bisher erlassen für Bäckereien, Ge- 
treidemühlen, Gast= und Schankwirtschaften, Blei- 
hütten, Steinbrüche und Steinhauereien usw. 
Für offene Verkaufsstellen ist durch die 
Gew.O.-Novelle von 1900 eine ununterbrochene 
Minimalruhezeit von zehn Stunden (für Städte 
mit mehr als 20 000 Einwohnern in Geschäften 
mit zwei oder mehr Gehilfen oder Lehrlingen: elf 
Stunden) und für solche Gehilfen, die außerhalb 
des Geschäfts zu Mittag essen, eine 1½ stündige 
Mittagspause vorgeschrieben (§ 139c). Zugleich 
sollen die Ladengeschäfte von 9 Uhr abends bis 
5 Uhr morgens (in den Städten mit mehr als 
2000 Einwohnern) geschlossen bleiben (§ 139e). 
Diese Ladenschlußzeit kann auf Antrag von zwei 
Dritteln der beteiligten Prinzipale durch Anord- 
nung der höheren Verwaltungsbehörde für alle 
Geschäfte oder für bestimmte Gruppen auf die 
Zeit von 8 Uhr abends bis 7 Uhr morgens aus- 
gedehnt werden (§ 139 f). Heute ist so der Achtuhr- 
Ladenschluß in fast allen größeren Städten durch- 
geführt. 
Eine sofortige allgemeine, schablonenhafte Be- 
schränkung der Arbeitszeit auf acht Stunden, wie 
die sozialdemokratische Partei es fordert, entspricht 
einerseits nicht der Verschiedenheit der Bedürfnisse 
und Verhältnisse, würde anderseits aber zu bedenk- 
lichen wirtschaftlichen Folgen für Arbeitgeber und 
Arbeiter führen. Vor allem würden entweder die 
Löhne sinken oder aber die Preise der Produkte 
steigen. Denn daß allgemein in acht Stunden 
dasselbe geleistet würde wie früher in zehn oder 
elf Stunden, ist ausgeschlossen. Die Steigerung 
der Preise der Produkte aber würde — auch ab- 
gesehen von der Verteuerung der Lebenshaltung 
der Arbeiter (als Konsumenten) — mit einer 
Minderung des Absatzes erkauft werden, d. h. zu 
Arbeiterentlassungen, Herabdrückung der Löhne 
usw. führen. Insbesondere würde England mit 
Schutzgesetze, 
  
gewerbliche. 972 
seiner „alteingesessenen“ Industrie, seiner Kapital- 
kraft, seinen Verkehrsmitteln (Seeweg und Kanä- 
len), seinen günstigeren Produktionsbedingungen: 
hochentwickelte Technik, geschulte Arbeitskräfte, 
Ausnutzung der Kinderarbeit (vom 11. Jahr ab), 
billigere Rohstoffe (Kohlen, Eisen, Baumwolle usw. 
schon wegen der billigeren Frachten), geringere 
Steuer= und Militärlast usw. sofort den Markt 
durch billigere Preise mit Beschlag belegen. Die 
Forderung des „UAchtstundentags“ ist zwar in sich, 
prinzipiell, nicht „sozialistisch“, aber wohl in der 
Form, wie sie vertreten wird. Für einzelne Be- 
triebsarten (). B. im Bergbau unter Tag) ist sie 
berechtigt, aber nicht allgemein. Auch hier gilt es, 
Schritt für Schritt vorzugehen, erst Erfahrungen 
zu sammeln, wie jeder weitere Schritt wirkt. Die 
sofortige Einführung des Achtstundentags würde 
ein gewissenloses Experiment sein, das sich vor 
allem für unsere Arbeiter verhängnisvoll erweisen 
würde. 
Alsberechtigte Reformziele müssen aner- 
kannt werden: 1) die weitere Ausdehnung des 
sanitären Maximalarbeitstags, 2) die Einführung 
eines gesetzlichen Maximalarbeitstags von etwa 
zehn Stunden oder einer entsprechenden Maximal= 
arbeitswoche wenigstens für Betriebe mit zehn 
Arbeitern. — Die Reglung der Arbeitszeit schließt 
in sich das Verbot der Nachtarbeit, soweit 
diese nicht durch die besondern Bedingungen des 
Betriebs gefordert wird. 
Für das Handelsgewerbe erscheint die ge- 
setzliche Einführung des Achtuhr-Ladenschlusses und 
Begrenzung der Beschäftigungszeit in Kontoren 
auf höchstens neun Stunden täglich berechtigt und 
durchführbar. 
VI. Schutz der Freiheit und gerechten 
Durchführung des Arbeitsvertrags. Obwohl 
formell frei und gleichberechtigt, ist der Arbeiter 
doch materiell bei der Festsetzung der Arbeitsbe- 
dingungen meistens machtlos und gezwungen, die- 
selben zu nehmen, wie sie geboten werden. Deshalb 
ist es die Pflicht des Gesetzgebers, den Arbeits- 
vertrag möglichst mit Schutzwehren zu umgeben, 
um die Freiheit des Arbeiters und die gerechte 
Durchführung des Vertrags möglichst zu sichern. 
Dahin gehört in erster Reihe: 
a) Reglung der Lohnzahlung. In den 
meisten Staaten sind die Arbeitgeber zur Aus- 
löhnung in bar gesetzlich verpflichtet und ist die 
Verabfolgung und das Kreditieren von Waren — 
das sog. Trucksystem — verboten. Der leitende 
Gedanke dieser Bestimmung ist, einerseits die reelle 
Auszahlung des bedungenen Lohns zu sichern — 
daß Arbeitgeber wie Angestellte nicht durch Auf- 
drängung schlechter und teurer Waren die Arbeiter 
wucherisch ausbeuten —, anderseits auch den Ar- 
beiter vor der Schuldknechtschaft des Arbeitgebers, 
die durch leichtsinniges Kreditieren der Waren sehr 
erleichtert würde, zu bewahren. Die Schweiz, 
Osterreich und Belgien haben auch nähere Be- 
stimmungen vorgesehen über die Fristen — mei-
	        
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