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besonders in der welschen Schweiz wählen die' Schweiz an Zahl der Scheidungen alle andern
größeren Gemeinden einen Ausschuß (conseil europäischen Länder übertrifft. Die geistliche Ge-
général), der die Gemeindekompetenzen ausübt richtsbarkeit ist für den bürgerlichen Geltungsbe-
und aus seiner Mitte den Gemeinderat (conseil reich abgeschafft. Über die religiöse Erziehung der
municipal) ernennt. Dieser letztere, in der Regel Kinder bis zum erfüllten 16. Jahr verfügt der
auf mehrere Jahre entweder in fixer Zahl oder im Inhaber der väterlichen oder vormundschaftlichen
Verhältnis zur Bevölkerungsziffer gewählt, ist die Gewalt. Seit 1848 dürfen „der Orden der Je-
vollziehende und verwaltende Behörde der politi= suiten und die ihm affiliierten Gesellschaften in
schen Gemeinde. Der Gemeindepräsident (Ge= keinem Teil der Schweiz Aufnahme finden und es
meindeammann) ist nicht nur Vorsteher des Ge= ist ihren Gliedern jede Wirksamkeit in Kirche und
meinderats, sondern in der Regel auch der Ge= Schule untersagt; dieses Verbot kann durch Bun-
meindeversammlung und Vertreter des Staats in desbeschluß auch auf andere geistliche Orden aus-
der Gemeinde, zum Teil auch mit staatlichen Auf- gedehnt werden, deren Wirksamkeit staatsgefährlich
gaben betraut (gerichtliche Polizei, Schuldbeitrei= ist oder den Frieden der Konfessionen stört“. Er-
bung, Steuerbezug). Gegen die Beschlüsse von richtung neuer und Wiederherstellung aufgehobener
Gemeinderat und Gemeindeversammlung ist der Klöster oder religiöser Orden ist verboten. Auf
Rekurs an die Regierung zulässig. Ein fakulta= die Säkularisierung des Friedhofwesens zielt die
tives Gemeindereferendum besitzen die Kantone Bestimmung: „Die Verfügung über die Begräb-
Neuenburg und Genf, das Recht der Volksini= nisplätze steht den bürgerlichen Behörden zu; sie
tiative in Gemeindesachen Neuenburg; einige Kan-
tone haben auch gesetzliche Minoritätenvertretung
und Proportionalwahl für die Gemeindebehörden
eingeführt.
III. Die Ordnung des Perhältnisses der
Kirche zum Staat ist (innerhalb der Bundes-
verfassung) Sache der Kantone. In den Kan-
tonen, die Zwinglis und Kalvins Lehre an-
haben dafür zu sorgen, daß jeder Verstorbene
schicklich beerdigt werden kann.“ Dennoch ist in
sehr vielen Gemeinden der Friedhofbetrieb den
Konfessionen überlassen, und in manchen pari-
tätischen Ortschaften bestehen Friedhöse mit kon-
fessionell ausgeschiedenen Abteilungen. Niemand
ist gehalten, Steuern zu Kultuszwecken einer Re-
ligionsgenossenschaft, der er nicht angehört, zu
nahmen, bildeten sich Landeskirchen, deren Ver= bezahlen. Wohl aber können die Kantone aus all-
waltung die betreffende Staatsgewalt innehatte. gemeinen Staatsmitteln die Kultusausgaben jener
Später einigten sich die evangelischen Schweizer „Konfessionen, welchen die Qualität öffentlichrecht-
auf die sog. helvetische Konfession, die so allgemein licher Korporationen verliehen wird, ganz oder
abgefaßt war, daß die abweichendsten evangelischen teilweise decken, während andere Konfessionen,
Bekenntnisse darin Platz fanden. Seit 1531 war denen diese Qualität versagt wird, leer ausgehen.
die Eidgenossenschaft unter dem den Katholiken Solche Kultusbudgets haben nurdieprotestantischen
günstigen zweiten Kappeler Frieden gestanden; Kantone: Basel-Stadt (bis 1910), Basel-Land,
an seine Stelle trat 1712 der den Evangelischen Bern, Zürich, Schaffhausen, Genf (bis 1909),
vorteilhafte vierte Landfriede. Abgesehen von der
kirchenfeindlichen Periode der Helvetik (1798 bis
1803) erfreuten sich die katholischen Kantone
völliger Selbständigkeit in religiösen Dingen und
die Katholiken der konfessionell gemischten Kan-
tone (Aargau, Thurgau, St Gallen, Graubün-
den, Glarus) der gesetzlichen Parität. Der Sieg
des Radikalismus über den Sonderbund und die
neue Bundesverfassung von 1848 verschoben das
Verhältnis zu Ungunsten der Katholiken, und diese
antikatholische Tendenz wurde bei der Revision
der Bundesverfassung im Jahr 1874 noch ver-
schärft. Diese letztere berührt das Verhältnis der
Kirche zum Staat durch folgende Bestimmungen:
Glaubens-, Gewissens= und Kultusfreiheit sind
gewährleistet innerhalb der Schranken der Sitt-
lichkeit und öffentlichen Ordnung. Die Ausübung
bürgerlicher oder politischer Rechte darf nicht durch
Vorschriften oder Bedingungen religiöser Natur
beschränkt werden. Errichtung von Bistümern und
Veränderung in ihrem territorialen Bestand be-
darf der Genehmigung des Bundes. Die Zidvil-
eheschließung ist obligatorisch und muß der kirch-
lichen Trauung vorausgehen, die Ehescheidung ist
im ausgedehntesten Maß zugelassen, so daß die
Neuenburg, Waadt, wobei sich die Katholiken in
Basel-Stadt, Schaffhausen, Genf und Zürich über
ungerechte Zurücksetzung im Verhältnis zu den
staatlich bevorzugten kleinen altkatholischen Mi-
noritäten beschweren. Wird dagegen aus allge-
meinen Steuern der politischen Gemeinde eine
Konfession in derselben unterstützt, so können die
Andersgläubigen eine verhältnismäßige Befreiung
von der Gemeindesteuer verlangen. Anstände über
Bildung oder Trennung von Religionsgenossen-
schaften können auf dem Weg der Beschwerde-
führung durch das Bundesgericht entschieden wer-
den. Auf diesem Weg wurde viel katholisches
Kirchenvermögen den „Altkatholiken“ zugeschieden
und seinem Eigentümer und Zweck entfremdet. —
Völkerrechtliche Garantien für freie Ausübung der
katholischen Religion und die Rechtsstellung der
katholischen Kirche wurden unter Zustimmung der
Eidgenossenschaft den katholischen Gebietsteilen
gewährt, welche durch den Wiener Kongreß bzw.
Turiner Vertrag 1815 den protestantischen Kan-
tonen Bern (Jura), Basel-Land (Birseck) und
Genf (savoyische Gemeinden) zugeschieden wurden.
Diese Verpflichtung wurde aber später, insbeson-
dere zur Zeit des Kulturkampfs, von seiten Berns