Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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und Genfs nicht erfüllt. — Die kantonalrechtliche 
Stellung der Kirche zum Staat ist in den einzelnen 
Kantonen sehr verschiedenartig geordnet: bald sind 
mehrere Konfessionen im Kanton als Landeskirchen 
oder öffentlichrechtliche Korporationen anerkannt, 
bald nur eine Religionsgenossenschaft neben andern 
als bloßen privatrechtlichen Organisationen, bald 
ist die katholische Kirche nur in bestimmten ein- 
zelnen Kirchengemeinden, nicht im ganzen Kanton 
öffentlichrechtliche Genossenschaft (so in Waadt, 
Zürich, Schaffhausen und Bern), bald hat die 
katholische Kirche nur die Qualität eines privaten 
Verbands (Genf, Basel-Stadt, Appenzell-Außer- 
rhoden). Grundsätzlich anerkennt Genf seit dem 
Gesetz vom 15. Juni 1907 nur das System der 
Trennung vom Staat und Kirche: jede Privi- 
legierung oder nachteilige Sonderbehandlung der 
Religionsverbände durch den Staat im Vergleich 
zu andern privaten Organisationen fällt weg; die 
Konfessionen können sich frei organisieren in der 
Form der Stiftung oder des Vereins mit dem 
Recht der juristischen Persönlichkeit, wenn der 
Verein sich ins Handelsregister eintragen läßt. 
Die Trennung war hier das Ergebnis der un- 
haltbaren Stellung, in die der Kanton durch seine 
Parteinahme für die „Altkatholiken“ seit 1873 
geraten war; diese erfreuten sich neben der kalvi- 
nischen Nationalkirche allein staatlicher Anerken- 
nung, während die katholische Kirche trotz völker- 
rechtlicher Verpflichtung des Staats um ihren 
Anteil am Kultusbudget gebracht war und ihre 
Bekenner an den Unterhalt jener beiden Religions- 
gesellschaften durch ihr Steuergeld beitragen mußten. 
Seit 1887 rafften sich die Gemeinden selbst auf, 
um die den Katholiken entrissenen und der „alt- 
katholischen“ Genossenschaft zugeteilten leeren Kir- 
chen dem katholischen Kultus zurückzugeben (23 
von 27 Kirchen), und die Ungerechtigkeit des 
Kultusbudgets wurde in steigendem Maß emp- 
funden, zumal die katholische Bevölkerung die 
Mehrheit gegenüber den Protestanten erhielt, 
allerdings nicht an der Urne (wegen den vielen 
nichtstimmberechtigten ausländischen Katholiken). 
Do die Versuche einer gerechten Lösung der bren- 
nenden Kultusbudgetfrage fehlschlugen, so fiel das 
Wort der „Trennung von Staat und Kirche“ end- 
lich auf fruchtbaren Boden, und es erreichte die 
kalvinische Nationalkirche das gleiche Schicksal, 
das die Kalvinisten 34 Jahre vorher den Katho- 
liken bereiten halfen. In Neuenburg dagegen 
wurde die von den Freidenkern und freikirchlichen K 
Protestanten verlangte Trennung von Kirche und 
Staat mit sehr großer Mehrheit vom Volk am 
20. Jan. 1907 abgelehnt. Eine Trennungsbewe- 
gung war auch in Basel-Stadt eingeleitet, wo 
die Verhältnisse denen in Genf ähnlich waren. 
Allein aus der Bewegung ging nur eine Revision 
der Kirchenartikel der Kantonsverfassung hervor 
(Volksabstimmung vom 6. März 1910), wonach 
nicht die Trennung ausgesprochen, sondern das 
bisherige Landeskirchentum beibehalten wurde. 
Schweiz. 
  
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Die protestantische und die altkatholische Genossen- 
schaft (ca 3000 Seelen) wurden weiterhin als 
öffentlichrechtliche Korporationen anerkannt, wäh- 
rend der römisch-katholischen Kirche (ca 40 000 
Seelen) wie 1875 und 1889 auch jetzt wieder 
diese Rechtsstellung verweigert wurde. Zwar wird 
das Kultusbudget für die Landeskirchen gestrichen, 
die Katholiken müssen alsb in Zukunft nicht mehr 
an deren Kultus beitragen (seit 1875 flossen aus 
Staatsmitteln für die Landeskirchen wohl 8 Mill., 
davon mehr als 1 Mill. aus dem Steuergeld der 
Katholiken); allein die altkatholische Landeskirche 
wird mit einem Pfründkapital von 150 000 Fran- 
ken und einem Pfarrhaus aus Staatsmitteln für 
immer dotiert und sichergestellt und ihr ein dem 
Staat gehörendes Kirchengebäude zu Eigentum 
überwiesen; ebenso überträgt der Staat der prote- 
stantischen Landeskirche das Eigentum an Kirchen, 
Pfarrhäusern und Sigristenwohnungen und das 
Kirchen= und Schulgut, das Staatsgut ist. Die 
römisch-katholische Gemeinde erhält nur eine kleine 
einmalige Subvention (200 000 Franken) als sehr 
bescheidene Rücksichtmahme auf den Umstand, daß 
die Katholiken bisher mit einer viel größeren 
Summe an den Leistungen für die beiden Staats- 
kirchen beteiligt waren. Die Landeskirchen erhalten 
das Steuerrecht, werden hinsichtlich ihrer innern 
rein kirchlichen Angelegenheiten aus der staatlichen 
Bevormundung entlassen, bedürfen aber für ihre 
Verfassung und ihre allgemeinen Erlasse der Ge- 
nehmigung der Landesregierung, die erteilt wird, 
wenn die kirchliche Organisation auf „demokra- 
tischer Grundlage“ fußt, die Wahl der Vorstände 
und Geistlichen durch die stimmberechtigten Mit- 
glieder vorgesehen, jeder Kantonseinwohner der 
betreffenden Konfession, der nicht ausdrücklich aus- 
tritt, als Mitglied anerkannt und „den Bedürf- 
nissen der Minderheiten angemessener Spielraum“ 
gewährt wird! Die Landeskirchen sind also keine 
Bekenntniskirchen. — Ein Beispiel einer in das 
Staatswesen ganz eingesenkten Staatskirche bietet 
die protestantische Landeskirche des Kantons 
Schaffhausen und die öffentlichrechtliche Ge- 
nossenschaft der Altkatholiken (ca 300 Seelen) 
während 6000 Katholiken in der Stadt nur als 
privatrechtlicher Kultusverein vom Staat aner- 
kannt sind und die Staatsungunst in vollem Maß 
genießen. — Im Prinzip ist die Selbständigkeit 
der Kirche hinsichtlich ihrer innern Angelegenheiten 
in vielen Kantonsverfassungen oder kantonalen 
irchenorganisationsgesetzen ausdrücklich gewähr- 
leistet, in vielen Punkten aber wieder nicht zur 
rechten Wirksamkeit gelangt, indem sehr bedeutende 
Rückstände des älteren territorialistischen Staats- 
kirchentums, welche vom modern staatlichen Ge- 
dankenkreis weit abliegen, oder Rückfälle in das- 
selbe die grundsätzliche Grenzregulierung zwischen 
Staat und Kirche stören. Die größte Freiheit ge- 
nießt die Kirche im Kanton Wallis, der den kirch- 
lichen Rechtsbereich durchaus anerkennt, soweit 
nicht Bundesrecht eingreift; ebenso hat sich Frei- 
 
	        
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