1061
die Geschworenen über die rechtlichen Gesichts-
punkte; auf die Würdigung der Beweise darf er
nicht eingehen. Der Angeklagte wird aus dem
Sitzungszimmer entfernt. Die Geschworenen ziehen
sich mit dem Fragebogen und etwaigen Beweis-
stücken in ihr Beratungszimmer zurück; ohne Er-
laubnis des Vorsitzenden darf keiner das Zimmer
verlassen und kein Dritter in dasselbe eintreten; sie
wählen einen Obmann zur Leitung ihrer Verhand-
lungen, beraten und beschließen ihre Antworten auf
die Fragen („ja“ oder „nein“) — den Spruch.
Die Geschworenen sind an keinerlei Beweisregeln
gebunden; sie entscheiden nach freier Uberzeugung.
Eine dem Angeklagten ungünstige Entscheidung
setzt eine Mehrheit von wenigstens acht Stimmen,
bei Verneinung mildernder Umstände eine Mehr-
heit von sieben Stimmen voraus; ist daher die
erforderliche Mehrheit nicht vorhanden, so gilt die
betreffende Frage als zugunsten des Angeklagten
entschieden. Um dieses kontrollieren zu können, ist
bei jeder dem Angeklagten nachteiligen Antwort
anzugeben, daß dieselbe mit mehr als sieben
Stimmen, bei mildernden Umständen, daß die-
selbe mit mehr als sechs Stimmen beschlossen sei.
Der Spruch wird neben den Fragen nieder-
geschrieben und vom Obmann unterzeichnet. Die
Geschworenen kehren in das Sitzungszimmer zu-
rück; der Obmann gibt den Spruch kund. Leidet
letzterer in der Form oder sachlich an Mängeln,
so findet noch ein Verfahren zur Beseitigung der-
selben statt. Sobald der Spruch in Ordnung ist,
wird er dem in das Sitzungszimmer zurück-
geführten Angeklagten verkündet. Lautet er bei
allen Haupt= und Hilfsfragen auf „Nichtschuldig“,
so wird der Angeklagte sofort freigesprochen;
andernfalls erhalten die Parteien das Wort, je-
doch lediglich zu ihren Ausführungen und An-
trägen betreffs Anwendung des Gesetzes und be-
treffs der Strafzumessung. Der Angeklagte ist
dann zu befragen, ob er noch etwas zu seiner Ver-
teidigung anzuführen habe. Das Gericht be-
schließt hierauf in abgesonderter Beratung das
Urteil; es ist an den Spruch gebunden und hat
unter Anwendung des Gesetzes die Art und Höhe
der Strafe festzusetzen, sofern es nicht einstimmig
der Ansicht ist, daß die Geschworenen in der Haupt-
sache zum Nachteil des Angeklagten sich geirrt
haben. In diesem Fall beschließt es die Verweisung
der Sache vor das Schwurgericht der nächsten
Sitzungsperiode, welches dann endgültig erkennt.
Das Urteil oder der Beschluß wird in öffentlicher
Sitzung verkündet.
Als Rechtsmittel ist nur die Revision zulässig.
Das Revisionsgericht (Reichsgericht) darf das Ur-
teil nicht wegen etwaigen Rechtsirrtums im Spruch,
sondern nur wegen Verletzung des materiellen
Strafrechts oder der das Verfahren betreffenden
Prozeßvorschriften aufheben; geschieht dieses, so
wird die Sache an das frühere oder ein anderes
benachbartes Schwurgericht desselben Bundes-
staats zur nochmaligen Verhandlung und Ent-
Schwurgerichte.
1062
scheidung zurückverwiesen. Daneben ist als außer-
ordentliches, aber nur auf bestimmte Fälle (ins-
besondere auf den Fall der Auffindung neuer Tat-
sachen und Beweise zugunsten des Verurteilten)
beschränktes Rechtsmittel die Wiederaufnahme des
durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfah-
rens gegeben, welches gegebenenfalls eine neue
Verhandlung und ein anderweitiges Urteil zur
Folge hat.
4. Allgemeine Betrachtungen. Wenn
vereinzelte Schriftsteller das Institut der Geschwo-
renengerichte verwarfen, weil es ein Produkt der
französischen Revolution und weiter in Deutsch-
land auch ein Produkt der Revolution von 1848
sei, so beruht das auf Irrtum. Abgesehen davon,
daß es objektiv verkehrt ist, eine staatliche Ein-
richtung lediglich um deswillen zu verwerfen, weil
sie aus Revolutionen herstammt, ist diese An-
nahme tatsächlich nicht begründet, da der dem
Geschworenengericht zugrunde liegende Gedanke
ein uralter, im alten Rom, im alten Deutschland
und in England längst praktisch durchgeführter
war. Es handelte sich also bei dieser „Errungen-
schaft der Revolution“ nur darum, altes, volks-
tümliches Recht wiederherzustellen. Nun ist zwar
eingewendet worden, namentlich auf grund gerade-
zu empörender Verdikte in Italien und Frankreich
(3. B. Panamaprozeß), daß von einem Rechts-
bewußtsein im Volk kaum noch die Rede sein könne.
Das ist aber über das Ziel hinausgeschossen.
Richtig ist nur, daß bei einzelnen Völkern, und
bei diesen hauptsächlich nur in gewissen Klassen
der Bevölkerung, das christliche Rechtsbewußtsein
geschwunden ist. Besteht die Geschworenenbank
aus solchen Leuten, so darf es nicht wundernehmen,
wenn Verdikte erfolgen, welche dem christlichen
Rechtsbewußtsein hohnsprechen. Würde es denn
aber anders sein, wenn die gelehrten Richter, welche
bei jenen Völkern meistens denselben Klassen an-
gehören, über das Schuldig zu befinden hätten?
Das sind die Zeiten des sittlichen und sozialen
Verfalls, in welchen es auch nicht möglich ist,
bessernde Gesetzesvorschläge durchzubringen, da die
gesetzgebenden Körperschaften in solchen Zeiten
meist oder in ihrer Majorität derselben Klasse an-
gehören. Staaten, in welchen solche Vorkommnisse
Möglich sind, welche aber keine Wege einschlagen,
sie künftig unmöglich zu machen, gehen unrettbar
dem Untergang entgegen.
Wo, wie in Deutschland, die Verhältnisse im
großen und ganzen noch gesund sind, kommt es
wesentlich auf eine richtige Bildung der Geschwo-
renenbank an, um möglichst gerechte Urteile zu er-
zielen. Die Möglichkeit, sie tendenziös zu bilden,
muß ausgeschlossen sein. Die Vorschriften der
Strafprozeßordnungsind oben eingehend mitgeteilt,
umersichtlich zu machen, daß diesem Erfordernis
im wesentlichen genügt ist. Jede entscheidende
staatliche Einwirkung auf die Wahl der zum Ge-
schworenendienst zu berufenden Personen ist aus-
geschlossen. Die Vorschriften könnten als voll-
34“