Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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kommene bezeichnet werden, wenn die Selbst- 
verwaltungskörper, welche die Vertrauensmänner 
wählen, immer so zusammengesetzt wären, daß sie 
unbedingtes Vertrauen der Bevölkerung verdienten. 
Dem ist leider wegen der Vorschriften über die 
Wahlen zu den Selbstverwaltungskörpern nicht 
immer so. Dazu kommt, daß selbst bei einwand- 
freier Bildung der Geschworenenbank eine gewisse 
Tendenziosität der Geschworenen vermöge ihrer 
menschlichen Schwäche gar nicht zu vermeiden ist. 
Erfahrungsgemäß erfolgt z. B. der Spruch auf 
„nicht schuldig“ bei Brutalitäts= oder Sittlich- 
keitsverbrechen leichter, bei Brandstiftung schwerer, 
wenn auf der Geschworenenbank eine größere An- 
zahl ländlicher Bewohner sitzt, und umgekehrt, 
wenn eine größere Zahl städtischer Bewohner die- 
selbe einnimmt. Es ist das erklärlich bei den 
Lebensanschauungen der Geschworenen in Bezug 
auf die verschiedenen Arten von Verbrechen und 
deren größere Gefährlichkeit, je nachdem das platte 
Land oder Städte davon betroffen werden. Dieses 
beeinflußt denn auch die Ausübung des Ablehnungs- 
rechts. Versucht doch heute vielfach der Staats- 
anwalt und Verteidiger mit mehr oder weniger 
psychologischem Scharfsinn nicht unbefangene, 
sondern gerade zu ungunsten oder zugunsten des 
Angeklagten befangene Geschworene auf die Ge- 
schworenenbank zu bringen. Diesem erheblichen 
Mißstand sollte gesteuert werden. Ein fernerer 
Einwand geht dahin, daß in politisch und sozial 
aufgeregten Zeiten, wo die Bevölkerung in heftig 
sich bekämpfende Parteien zerrissen ist, die Ge- 
schworenen von ihren Parteianschauungen sich 
nicht losmachen können, und daß die Verdikte die 
Parteianschauungen des entscheidenden Teils der 
Geschworenenbank widerspiegeln, daher öfters 
nicht objektiv gerecht sind. Es betrifft dieses die 
sog. politischen, in Bayern, Württemberg und 
Baden auch die Preßdelikte. Hieran schließt sich 
auch der Einwand, daß öfters Fälle vorkommen, 
in welchen die Geschworenen das „Nichtschuldig“ 
aussprechen, weil sie zwar die dem Angeklagten 
zur Last gelegte Tat für erwiesen, das Strafgesetz 
aber für zu hart erachten; in ihrem Spruch liegt 
also eine ihnen nicht zustehende Korrektur des 
Gesetzes und Ausübung des landesherrlichen Be- 
gnadigungsrechts. Diese Übelstände entspringen 
aus der Bedeutung, welche dem Wort „Schuldig“ 
bei der Fragestellung durch die Reichsstrafprozeß- 
ordnung gegeben ist. 
Nach französischem Recht umfaßte das „Schul- 
dig“ zugleich das Urteil darüber, ob dem Ange- 
klagten die Tat zuzurechnen sei, also nicht lediglich 
über seine damalige Zurechnungsfähigkeit, sondern 
ob das Strafgesetz auf ihn anzuwenden sei, ob er 
„vor dem Gesetz“ schuldig sei. Geht daher, was 
namentlich in politisch erregten Zeiten von Bedeu- 
tung ist, die Meinung der Geschworenen dahin, 
daß die Tat nicht zu mißbilligen, mindestens nach 
ihrer rein subjektiven Anschauung zu entschuldigen 
sei, so erfolgt ein „Nichtschuldig“, und umgekehrt 
Schwurgerichte. 
  
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um so leichter ein „Schuldig“, wenn zwar der 
Beweis ein schwacher war, der Angeklagte aber 
einer politischen Richtung angehört, welche nach 
der Meinung der Geschworenen verwerflich ist. 
Eine so weit gehende Ubertragung der richterlichen 
Gewalt auf die Geschworenen kann in der Tat 
das Produkt der französischen Revolution genannt 
werden. 
Die Reichsstrafprozeßordnung ist noch weiter 
gegangen, indem sie die Aufnahme der einzelnen 
konkreten Tatsachen in die Frage ausschließt und 
im wesentlichen nur den Begriff des Verbrechens 
durch die Frage zum Ausdruck bringen läßt. Da 
diese Begriffe vielfach auf juristischer Grundlage 
beruhen, so führt das dahin, daß die Geschworenen 
zugleich oft sehr schwierige Rechtsfragen zu beant- 
worten haben, Rechtsfragen, die der Jurist erst 
durch langes Studium sich zu eigen macht, so: 
die Frage nach Teilnahme, Mittäterschaft, An- 
stiftung, Beihilfe, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Vor- 
bereitung, Versuch usw. und die der Laie unver- 
züglich nach einer in der Regel einmaligen Be- 
lehrung mit der größten Tragweite für oder gegen 
den Angeklagten entscheiden soll. Dieses hat aber 
zwei sehr erhebliche, geradezu verhängnisvolle 
Folgen. Unter den meist nicht rechtskundigen Ge- 
schworenen findet sich oft ein Rechtskundiger oder 
mindestens ein solcher, der sich diesen Anschein 
beilegt; den rechtlichen Ausführungen dieses folgen 
die übrigen blind. Der Spruch hängt also oft 
von der Ansicht dieses einen Geschworenen ab. 
Am verhängnisvollsten aber ist es, daß, wenn ein 
Rechtsirrtum vorgekommen ist, das demnächst er- 
gehende Urteil wegen Rechtsirrtums nicht ange- 
sochten werden kann, und zwar hier bei schweren 
Verbrechen, wogegen eine solche Anfechtung sogar 
bei den geringsten Strafsachen möglich ist. 
Hier heißt es also, auf das alte deutsche und das 
englische Prinzip zurückzugehen, daß die Geschwo- 
renen lediglich die Aufgabe haben, die Beweise 
für die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat, 
und wenn die Zurechnungsfähigkeit des Ange- 
klagten zur Zeit der Tat bestritten ist, auch die 
Beweise hierfür zu prüfen, und daß das „Schul- 
dig“ wieder auf die Bedeutung zurückgeführt wird, 
daß der Beweis erbracht sei. Sagte doch Karl 
Friedrich Eichhorn in seiner berühmten „Deutschen 
Staats= und Rechtsgeschichte“ (IV [18251 756): 
„Nur ein unverantwortlicher Leichtsinn kann an- 
raten, ein Institut dieser Art (das Geschworenen- 
institut, wie es nach französischem Recht konstruiert 
ist) auf deutschen Boden zu verpflanzen, und wer 
überhaupt von der Notwendigkeit der Einführung 
der Geschworenen spricht, sollte wenigstens wissen, 
daß ihr Ausspruch nur ein Beweismittel ist, und 
die Bedeutung desselben im englischen Recht zu 
erklären imstande sein, was noch keine der phrasen- 
reichen Erklärungen geleistet hat, die in Deutschland 
über diesen Gegenstand vernommen worden sind.“ 
Auch das ist ein Fehler der Reichsstrafprozeß= 
ordnung, daß den Geschworenen außer den Fragen
	        
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