Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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nach den im Gesetz bestimmt definierten straf- 
mindernden oder strafbarkeitsaufhebenden Um- 
ständen noch eine allgemeine Frage nach dem Vor- 
handensein mildernder Umstände auf An- 
trag oder von Amts wegen vorzulegen ist, wenn 
das Gesetz beim Vorhandensein solcher eine ge- 
ringere Strafe androht. Solche Umstände sind in 
keinem Strafgesetz definiert oder aufgezählt. Diese 
Bestimmung entspricht wieder dem französischen 
Recht. Die preußische Verordnung von 1849 
enthielt eine solche nicht; sie findet sich zuerst im 
preußischen Gesetz vom 3. Mai 1852. In dem 
Entwurf der Reichsstrafprozeßordnung fehlte sie 
aber, weil es sich hierbei lediglich um die allein 
dem Richter gebührende Strafzumessung handelt. 
Das ist ganz richtig. Den Geschworenen einen 
Einfluß auf die Anwendung des Gesetzes, also auf 
die Strafzumessung zu gestatten, indem sie durch 
Bejahung der Frage, bei welcher unkontrollierbare, 
oft nicht klar gedachte Motive, meist bloßes Mit- 
leid mit dem Angeklagten, zugrunde liegen, den 
Richter zwingen, eine geringere Strafe anzuwen- 
den, ist eine vollständige Verschiebung des Ver- 
hältnisses der Geschworenen und des Richters. 
Gleichwohl ist die Bestimmung auf Beschluß der 
Reichstagskommission ins Gesetz aufgenommen. 
Fragt man, weshalb die Geschworenen nicht in 
allen Strafsachen, auch in den geringeren und den 
geringsten, mitzuwirken berufen sind, so ist zu er- 
widern, daß dieses unausführbar wäre, schon weil 
es an der erforderlichen Zahl von Geschworenen 
fehlen würde. Nur für die Aburteilung der 
schweren Verbrechen ist sie vorhanden. Bei ge- 
ringfügigeren Delikten wird das Laienelement in 
der zu Anfang gedachten Art zur Aburteilung zu- 
gezogen; bei den zwischen beiden Arten von De- 
likten liegenden Straftaten entscheiden nur Be- 
rufsrichter. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe 
für diese verschiedenartige Behandlung der Straf- 
sachen zu erörtern. Von besonderem Interesse ist 
es dagegen, weshalb gerade die schwersten poli- 
tischen Verbrechen, Hoch= und Landesverrat 
gegen Kaiser und Reich, den Schwurgerichten ent- 
zogen und dem Reichsgericht überwiesen sind. Die 
Reichstagskommission hat dieses nicht beanstandet. 
Es ist zwar geltend gemacht worden, daß gerade 
diese Verbrechen an erster Stelle vor die Schwur- 
gerichte gehörten. Anerkannt ist, daß Landes- 
schwurgerichten die Entscheidung über die den 
Bestand des Reichs gefährdenden Verbrechen nicht 
überlassen werden dürfe, die Sachen vielmehr vor 
ein Gericht des Reichs gehören. Ein Antrag auf 
Bildung eines Reichsschwurgerichts wurde mit 
großer Mehrheit abgelehnt, weil derselben unüber- 
windliche Schwierigkeitenentgegenständen. Sollten, 
wie vorgeschlagen war, die Geschworenen aus der 
Zahl der Reichstagsabgeordneten genommen wer- 
den, so würde das Gericht ein rein politisches 
werden, indem die Politik in die Rechtspflege ein- 
geführt würde, was grundsätzlich völlig unzulässig 
sei. Sollten sie aber aus den einzelnen Landes- 
Schwurgerichte. 
  
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teilen entnommen werden, so könnte eintreten, daß 
sie aus solchen Bezirken kämen, in denen der 
Wunsch nach Losreißung vom Reich, also für 
Hochverrat Sympathie besteht. Zudem seien die 
nach jener letzteren Richtung hin gemachten Vor- 
schläge praktisch unausführbar. Und endlich ent- 
spreche die im Entwurf vorgeschlagene Einrichtung 
dem Art. 45 der Reichsverfassung. Es ist nicht 
zu verkennen, daß diese Gründe von schwerwiegen- 
der Bedeutung sind, zumal das Deutsche Reich 
noch so jungen Datums ist. Das Reich darf sich 
gewiß nicht durch eine Gesetzgebung, welche zwar 
den Vorzug der theoretischen Konsequenz hat, in 
die Lage bringen, seinen Bestand zu gefährden. 
Gegen die jetzige Organisation der Schwur- 
gerichte spricht, daß den Geschworenen in ihrer 
Beratung nicht ein tüchtiger Rechtskundiger zur 
Seite steht, und darin liegt gleichzeitig eine In- 
konsequenz gegenüber den Schöffengerichten. Bei 
diesen, die nur minder schwere Strassachen ab- 
urteilen, berät der Vorsitzende die Schuld= und 
Straffrage. Die Laien haben eine Anleitung und 
gleichzeitig einen Einfluß auf das Strafmaß. Beie 
den schweren vor dem Schwurgericht abzuurtei- 
lenden Sachen werden Schuld= und Straffrage 
getrennt. Hier entscheidet der Geschworene, ob der 
Angeklagte der Täter ist, und schreibt dem Berufs- 
richter vor, ob er mildernde Umstände zugebilligt 
erhalten soll oder nicht. Der eine Richter stellt 
das „Schuldig“ fest und der andere soll nun sagen, 
wie hoch die Schuld sei. Diese Zwiespältigkeit 
des Urteils ist unbefriedigend, und das um so 
mehr für den Angeklagten, denn er erfährt ja nie, 
weshalb ihn die Geschworenen „schuldig“ ge- 
sprochen haben. 
Der Vorzug der Schwurgerichte liegt in der 
Unabhängigkeit von der Verhandlungsleitung, in 
der Gründlichkeit der Aufklärung und Erweckung 
des Verständnisses für die Tätigkeit der Straf- 
gerichte und Verbreitung der Rechtskenntnisse. Das 
lebende Rechtsbewußtsein soll durch die Schwur- 
gerichte im Volk erhalten und gestärkt werden. Es 
soll teilnehmen an der Ausübung der Staats- 
gewalt, um das Vertrauen zu unparteüscher Straf- 
rechtspflege zu erhalten. Demgegenüber zeigt 
aber die heutige Organisation eine solche Anzahl 
von Fehlern teils schwerwiegender Natur, daß eine 
Anderung dringend geboten ist. 
Bei den seit dem Jahr 1894 über die Revision 
der Strasprozeßordnung im deutschen Reichstag 
geführten Verhandlungen ergab es sich, daß die 
Einrichtung der (bisherigen) Schöffengerichte fast 
allgemein als bewährt befunden ist; es wurden 
Anträge gestellt, diese Einrichtung auch auf die 
Aburteilung der vor die Strafkammern gehören- 
den Straftaten (Vergehen und einzelne Verbrechen) 
auszudehnen. Der Entwurf der Strafprozeß= 
ordnung sieht auch die Besetzung der Strafkammern 
mit Laien vor. Weiter aber gingen die Ansichten 
einiger, konsequent auch die Schwurgerichte in 
sog. „große" Schöffengerichte umzuwandeln. Man
	        
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