Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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hat geltend gemacht, daß bei einzelnen Verbrechen 
der Tatbestand derart verwickelt sei, daß die Ge- 
schworenen den Verhandlungen zu folgen öfters 
außer stande seien und daß der Tatbestand derart 
mit Rechtsbegriffen durchsetzt sei, daß derselbe nur 
durch Beratung zwischen rechtskundigen Richtern 
und den Laien festgestellt werden könne, z. B. bei 
Konkursverbrechen, einzelnen Arten von Verbrechen 
im Amt und von Urkundenfälschungen. Weitere 
Meinungen gehen dahin, die Geschworenen sollen 
bei der Straffrage mitberaten und mitstimmen, 
oder sie sollen nur feststellen, daß der Angeklagte 
der Täter ist, während Straf= und Schuldfrage 
den Berufsrichtern überlassen bleibt, andere ver- 
langen einen Berufsrichter mit allen Rechten und 
Pflichten eines Geschworenen für die Geschworenen= 
bank. Es fehlt auch nicht an Stimmen, die die 
Beseitigung der Schwurgerichte und deren Ersatz 
durch die Berufsgerichte fordern. 
Alle diese Fragen sind heute um so mehr im 
Fluß, als die Reform der Strafprozeßordnung in 
Aussicht steht. Und was bringt uns der Entwurf 
hinsichtlich der Schwurgerichte? Kaum Nennens- 
wertes! An der Organisation soll so gut wie 
nichts geändert werden. Nur die Zahl der zur 
Auslosung kommenden Geschworenen wird von 
24 auf 18 verringert. Im übrigen steuert der 
Entwurf den Mängeln nur dadurch ab, daß er 
einige bisher zur Zuständigkeit der Schwurgerichte 
gehörige Sachen den Strafkammern überweist: so 
Amtsverbrechen, Depotunterschlagungen, Konkurs- 
verbrechen und schwere Urkundenfälschung. 
Das Plenum des Reichstags hat zu der Straf- 
prozeßreform endgültig noch keine Stellung ge- 
nommen. Seine zur Vorberatung eingesetzte Kom- 
mission aber hat sich, soweit die Schwurgerichte 
in Betracht kommen, im wesentlichen auf den 
Standpunkt des ihm vorgelegten Entwurfs ge- 
stellt, auch in Anlehnung an diesen, aber für den 
Angeschuldigten günstiger, die Voruntersuchung 
gestaltet. 
Literatur. Brunner, Entstehung der S. (1872); 
Binding, Die drei Grundfragen der Organisation 
des Strafgerichts (1876); Dalcke, Fragestellung u. 
Verdikt im schwurgerichtl. Verfahren (21898); 
Kalau vom Hofe, Der Vorsitz im S. (1901); Gör- 
res, Der Wahlspruch der Geschworenen u. seine 
psychologischen Grundlagen (1905); de Niem, Be- 
rufsrichter oder Laienrichter (1906); S. u. Schöf- 
fengerichte, Beiträge zu ihrer Kenntnis u. Beur- 
teilung, von Mittermaier u. Liepmann hrsg. 
Sammlung der Freunde u. Gegner der S. (2 Bde, 
1906/10); Fedderson, Das S. (1907); Oetker, Das 
Verfahren vor den S.= u. Schöffengerichten (1907); 
Kleinfeller, Das schwurgerichtl. Verfahren u. der 
Entwurf einer Strafprozeßordnung (1909);Hitzig, 
Die Herkunft des S.s im röm. Strafprozeß. Eine 
Hypothese (1909). IV. Rintelen, rev. Eggler.] 
Seekriegsrecht s. Krieg, Kriegsrecht (Bd III, 
Sp. 518 ff). 
Seerecht und Binnenschiffahrts- 
recht. Das Recht der Schiffahrt, soweit sie sich 
Seekriegsrecht — Seerecht usw. 
  
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auf dem Meer abspielt, pflegt man als Seerecht 
zu bezeichnen. Von überragender Wichtigkeit ist 
das private Seerecht, das im vierten Buch des 
deutschen Handelsgesetzbuchs (§§ 474/905) ge- 
regelt ist. Diese Reglung entspricht noch im 
wesentlichen derjenigen, die in Deutschland An- 
fang bis Mitte der 1860er Jahre (in Preußen 
1861) im fünften Buch des alten H. G. B. getroffen 
worden ist. Die seerechtlichen Bestimmungen des 
alten H. G. B. beruhen auf den Beratungen der 
Seerechtskommission, die in Hamburg 1858/60 
getagt hat. Diese Beratungen fußen wieder auf 
einem preußischen Gesetzentwurf und mittelbar 
auch auf der Rechtsprechung der nordischen See- 
handelsstädte, die das alte Seerecht durch die Ge- 
richtsübung weiter entwickelt hatte. Von den 
ältesten Quellen verdienen Erwähnung: die Rules 
d'Oléron, Rechtsregeln des Seegerichts auf der 
westfranzösischen Insel Oléron (12. Jahrh.), das 
Consolato del mare von 1370, beruhend auf 
den Sprüchen des Seegerichts in Barcelona, das 
Hanseatische Waterecht — niederländischer Ent- 
wurf von 1407, nach einer für das Gotländische 
Seegericht angefertigten Handschrift von 1505 als 
Seerecht von Wisby bezeichnet —, endlich die 
Ordonnance de la Marine Ludwigs XIV. von 
1681. Diese Ordonnanz wurde zur Grundlage 
genommen vom preuß. Allgem. Landrecht und 
namentlich vom Code Napoléon, ber seinen wesent- 
lichen Bestimmungen nach in das Seerecht vieler 
Kulturstaaten überging. Die älteren Seegesetze 
Englands sind in der Merchant Shipping Act 
von 1854 unter Einfügung von Ergänzungen 
neu zusammengefaßt worden. Die amerikanischen 
Gesetzesbestimmungen stehen dem englischen Recht 
nahe (Revised Statutes von 1875). 
Gekennzeichnet ist das im geltenden deutschen 
H.G.B. vom 10. Mai 1897 (mit Novellen vom 
2. Juni 1902 und 30. Mai 1908) geregelte 
Seehandelsrecht durch seine Ausführlichkeit (Ka- 
suistik). Der ganz überwiegende Teil der Vor- 
schriften betrifft den an die Kauffahrteischiffe, 
d. h. die zum Erwerb durch die Seefahrt bestimm- 
ten Schiffe geknüpften Geschäftsverkchr. Das 
Reichsgesetz vom 22. Juni 1890 (Fassung vom 
29. Mai 1901) betr. das Flaggenrecht der 
Kauffahrteischiffe bestimmt, daß diese mit Ein- 
schluß der Lotsen-, Hochseefischerei-, Bergungs- 
und Schleppfahrzeuge als Nationalflagge aus- 
schließlich die Reichsflagge zu führen haben (8 1). 
Die Kauffahrteischiffe sind aber nur dann dazu 
berechtigt, wenn sie im ausschließlichen Eigentum 
von Reichsangehörigen stehen; bei juristischen Per- 
sonen (Aktiengesellschaften) kommt es auf den Sitz 
im Inlande an (§ 2). Das Seeschiff könnte man 
als das Musterbeispiel einer beweglichen Sache an- 
sehen, genießt doch sogar das segelfertige, d. h. zum 
Abgehen fertige Seeschiff das Vorrecht der Be- 
schlagnahmefreiheit (H. G. B. § 482). Namentlich 
im Hinblick auf seinen hohen Wert wird jedoch 
das Seeschiff in einigen Rechtsbeziehungen, ins-
	        
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