Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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punkt ist der Selbstmord als völliger sittlicher 
Bankrott zu bezeichnen. In der Begründung 
dieses schweren Verdikts herrscht jedoch nicht volle 
Einmütigkeit. Die innere Verwerflichkeit des 
Selbstmords ergibt sich aus folgenden Momenten: 
1. Er ist ein unnatürliches Verbrechen gegen 
das eigne Menschenwesen, insofern hier der mäch- 
tigste und zentralste aller Triebe, der Selbsterhal- 
tungstrieb, widernatürlich unterdrückt und aus- 
gemerzt wird. Die Selbstliebe und Selbstbehaup- 
tung ist nicht bloß Recht, sondern auch undispen- 
sable Pflicht, weil ihre Erfüllung die notwendige 
Bedingung der Lösung der dem einzelnen ge- 
stellten Lebensaufgabe bildet. Der Selbstmord 
steht in einem so schroffen Gegensatz zu diesem 
Grundtrieb, daß er immer ein psychologisches 
Rätsel bleibt, und man es begreiflich finden kann, 
wenn die Reigung besteht, den Selbstmord über- 
haupt nur durch geistige Erkrankung zu erklären. 
Er stellt sich dem menschlichen Empfinden als 
etwas Unnatürliches dar. Das erste Urteil spricht 
die menschliche Natur selbst, die vor solcher Tat 
zurückschaudert. Grauen und Entsetzen ist der 
erste Eindruck, den sie auf jeden normalen Men- 
schen ausübt. Auch Paulsen, der dem Selbst- 
mord keineswegs unbedingt ablehnend gegenüber- 
steht, gesteht, daß das Grauen vor dem Tod am 
stärksten sich äußere, wenn jemand selbst die Hand 
gegen sein Leben erhebt (System der Ethik II/ 116). 
Dieser Protest der Natur tritt auch in dem Be- 
wußtsein der Völker hervor, das im großen und 
ganzen den Selbstmord aufs entschiedenste ver- 
urteilt. Im heidnischen Altertum läßt sich aller- 
dings eine Strömung verfolgen, die dem Selbst- 
mord sympathisch gegenübersteht. Sie erklärt sich 
aus der im Heidentum herrschenden Verdunkelung 
der sittlichen Begriffe sowie aus dem furchtbaren 
moralischen und sozialen Elend der heidnischen 
Welt, aus dem der Selbstmord den willkommenen 
Ausweg zu bieten schien. Trotz dieser vereinzelten 
Parteinahme zugunsten des Selbstmords ist es 
eine unumstößliche Tatsache, daß selbst das Heiden- 
tum laut und deutlich denselben verurteilte. Bei 
den Griechen wurde dem Selbstmörder die Hand 
abgehauen und die Grabesehre entzogen; die 
Handlung erschien als eine Verletzung der Scheu, 
mit welcher der antike Mensch gewalttätigen Ein- 
griffen in die Naturordnung überhaupt gegenüber- 
stand (Schmidt, Ethik der Griechen II 441). Die 
Empfindung, daß dem Menschen nicht das Recht 
zusteht, sein Leben willkürlich und gewaltsam ab- 
zukürzen, spricht sich ganz in Ubereinstimmung mit 
der antiken Staatsidee darin aus, daß dieses Recht 
nur der Obrigkeit zugesprochen wurde. Da der 
einzelne ganz im Staat aufging und seinen Zweck 
nur im Wohl des Ganzen fand, so konnte die 
Obrigkeit als Vertreterin der Gesamtheit allein 
ihn von diesem Pflichtverhältnis lösen. Damit 
wurde der Selbstmord der individuellen Rechts- 
sphäre entrückt und mit einer gewissen Rücksicht 
auf das Gemeinwohl umkleidet. Tatsächlich stellte 
Selbstmord. 
  
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auch die Obrigkeit in einzelnen griechischen Staaten 
Erlaubnisscheine aus, wenn die für den Selbst- 
mord angegebenen Gründe sich bei der Prüfung 
stichhaltig erwiesen. Dagegen bestand ein abso- 
lutes Selbstmordverbot für Soldaten und Ver- 
brecher, weil der antike Staat diese Kategorien 
von Menschen als ihm ausschließlich gehörig an- 
sah. Erst in der Verfallszeit des griechischen und 
römischen Volkslebens trat die Philosophie in 
Widerspruch zu der „gemeinen Meinung“. Die 
Schulen der Stoiker und Epikureer hielten den 
Selbstmord für moralisch erlaubt, ja sie gefielen 
sich darin, denselben zu apotheosieren. Und eine 
große Zahl hervorragender Männer hat von dieser 
Freiheit Gebrauch gemacht, und am Ausgang der 
römischen Kaiserzeit war die Selbstmordmanie der 
beredteste Ausdruck der verzweifelten politischen, 
sozialen und ethischen Zustände und die treffendste 
Widerlegung der Behauptung, der Polytheismus 
sei die Quelle der heitern Weltauffassung und des 
ungetrübten Lebensgenusses, während die jüdische 
und christliche Ethik durch ihre Ideen von Sünde 
und Strafe wahre Heiterkeit ersticke (ogl. Albrecht 
Rau, Die Ethik Jesu (18991 29). Die Philo- 
sophen priesen es geradezu als einen Vorzug 
des Menschen, daß er die Freiheit besitze, das 
Leben zu verlassen, wenn es seinen Wert verloren 
habe. Seneca hielt es für heldenmütig, freiwillig 
des Lebens sich zu entäußern, wenn sich keine 
Möglichkeit zeige, in einer des Weisen würdigen 
Ruhe und Unabhängigkeit zu leben (Ep. 24. 58; 
De ira 3, 15; De provid. c. 2.6). Dagegen sagt 
Cicero in seinem Cato maior von Pythagoras, 
er habe verboten, ohne Erlaubnis des höchsten 
Feldherrn von seinem Lebensposten zu desertieren. 
Plato redet vom Selbstmord, wo er im dritten 
Buch über die Gesetze von dem Mord der Ver- 
wandten handelt, und argumentiert also: Was soll 
nun der erleiden, der den nächsten seiner Ver- 
wandten und den, der für den Teuersten gilt, um- 
gebracht hat, d. h. der sich selbst entleibt und sein 
vom Schicksal ihm bestimmtes Lebenslos gewalt- 
tätig wegwirft, obwohl er weder dadurch, daß der 
Staat es ihm als Strafe auferlegte, noch durch 
ein schmerzvolles und rettungsloses Unglück — es 
ist wohl der Wahnsinn gemeint — dazu genötigt 
wurde, sondern lediglich aus Schlaffheit und 
Feigheit eines unmännlichen Sinns? Ihm soll, 
bestimmt Plato, eine Bestattung werden an ein- 
samem Ort, ohne Ruhm und ehrendes Andenken 
und ohne Grabsäule. 
So schreckt die menschliche Natur kraft des in 
sie eingesenkten Selbsterhaltungstriebs beinahe in- 
stinktiv vor der freiwilligen Vernichtung des Lebens 
zurück. Das Leben muß darum zuerst an seiner 
tiessten Wurzel zerstört, der stärkste Trieb muß 
zuerst ertötet werden, ehe die Handlung selbst voll- 
bracht werden kann. Daraus ergibt sich, wie un- 
natürlich der Selbstmord ist. 
Das tritt noch deutlicher hervor, wenn man be- 
denkt, daß der menschliche Selbsterhaltungstrieb
	        
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