Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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wählt, um eine sittliche Würde zu behaupten. Und 
doch liegt im Selbstmord immer das Eingeständ- 
nis, daß man sich außer stande fühlt, ein durch 
den höchsten Willen auferlegtes Leiden zu tragen. 
Auch wo scheinbar höhere Beweggründe, die 
Rücksicht auf Ehre usw., den Selbstmord veran- 
lassen, ist derselbe nicht anders denn als feiges 
Waffenstrecken zu erklären, und es sind unchrist- 
liche Wahnvorstellungen, denen das Leben feig 
geopfert wird. So hoch die Standesehre auch in 
ihrem sittlichen Wert angeschlagen werden muß, 
so sind es doch krankhafte Auswüchse, wenn im 
Namen der Standesehre eine Vernichtung des 
Lebens als erlaubt, ja als gefordert bezeichnet 
wird. Auch wenn gekränkte Ehre zu diesem Schritt 
treibt, braucht die christliche Ethik ihr Verdikt über 
den Selbstmord keineswegs zu modifizieren. Nur 
wo das natürliche Sittlichkeitsgefühl erschüttert 
und ein vollständiger Bankrott am christlichen 
Glauben eingetreten ist, kann jemand, der durch 
niedrige Verleumdung oder Beschimpfung in seiner 
Ehre sich verletzt fühlt, die Rettung im Selbstmord 
erblicken, anstatt sich zu sagen, daß ein Verleumder 
ihm die Ehre nicht rauben könne und das Be- 
wußtsein der Unschuld die äußere Ehrenkränkung 
aufwiege. Ubrigens ist der beabsichtigte Erfolg 
ein sehr zweifelhafter, da der Selbstmord ebenso- 
gut als eine indirekte Bestätigung der erhobenen 
Beschuldigung gedeutet werden kann. Wenn aber 
diese begründet war, so ist es des Mannes würdig, 
die Konsequenzen seines Handelns zu tragen und 
Selbstmord. 
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der einzige Faktor im modernen Gesellschaftsleben, 
der nicht der Sentimentalität in der Beurteilung 
des schrecklichen Phänomens verfallen ist, das ein- 
zige Bollwerk, welches unerschütterlich den Stand- 
punkt der Natur und Moral verteidigt. Wo 
jedoch die unselige Tat nicht dem freien Willens- 
entschluß, sondern geistiger Störung entspringt, 
da tritt auch das Mitleid mit dem Unglücklichen 
wieder in sein volles Recht, da findet die kirchliche 
Zensur keine Anwendung. Zur Gestattung des 
kirchlichen Begräbnisses genügt schon der Nach- 
weis partieller psychischer Störung, und sie darf 
angenommen werden nicht bloß auf ärztliches 
Gutachten, sondern schon auf glaubwürdige In- 
dizien hin. Das Prinzip: In dubio pro reo, 
gilt auch hier, zudem ja auch die Hinterbliebenen 
einen Anspruch darauf haben, daß dem Toten nicht 
eine Schmach widerfahre, die er wirklich nicht 
verdient hat. Wo aber nach reiflicher Erwägung 
das kirchliche Begräbnis zu verweigern ist, da gilt 
es auch, diese Maßregel konsequent und unpar- 
teiisch zur Anwendung zu bringen, ohne Rücksicht, 
ob es sich um reich oder arm, um Hochstehende 
oder Proletarier handelt. „Hier einen Klassen- 
unterschied zu machen, wäre äußerst verwerflich 
und würde den gerechten Vorwurf einseitiger Par- 
teilichkeit mit furchtbarer Erbitterung der Armen 
und Geringenim Gefolgehaben" (Stöhr, Pastoral- 
medizin I(I1909] 436). Gerade im Angesicht des 
Todes provozieren derartige Begünstigungen einer 
sozialen Klasse den Haß der „Enterbten“ in hohem 
rad. 
sich ihnen nicht feig zu entziehen. Ist dieses Rä-Grad 
sonnement, lediglich das Resultat vernünftiger 
Erwägungen, schon genügend, den Selbstmord, 
auch wo er höheren Motiven zu entspringen scheint, 
zu verurteilen, so weiß der Christ, daß die Ehre, 
deren hoher Wert für eine gedeihliche Berufs- 
tätigkeit außer Zweifel steht, keineswegs das höchste 
Gut ist, das wertvoller als die äußere Ehrenhaf- 
tigkeit das Urteil des Gewissens ist, und daß ein 
Tag kommen wird, wo seine Ehre ihm wieder voll 
und ganz hergestellt wird. 
Ist der Selbstmord in seinem innersten Kern 
etwas Unsittliches und eine Preisgabe jeder christ- 
lichen Lebensauffassung, so erscheint es begreiflich, 
daß die Kirche den Selbstmörder vom christlichen 
Begräbnis ausschließt und sich von ihm lossagt, wie 
er durch seine Verzweiflungstat sich von ihr los- 
gesagt und jede Anwartschaft auf die Segnungen 
der Kirche weggeworfen hat. Nichts wird der 
Kirche mehr verübelt als diese angebliche Härte 
gegen die unglücklichen Selbstmörder. Die Ver- 
weigerung des christlichen Begräbnisses und Opfers 
wird als Intoleranz und Inhumanität ausgelegt. 
Die weichliche Sentimentalität und falsche Hu- 
manität unserer Zeit, von der selbst das fein- 
gebildete Griechenland sich frei erhielt, kommt 
hierin zum Ausdruck. Es ist jedoch keineswegs 
grausame Härte, sondern lediglich heilsame Strenge, 
der berechtigte Ernst des Erziehers, was die Stel- 
lung der Kirche in diesem Punkt bestimmt. Sie ist 
Staatslexilon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
  
III. Moderne Verteidiger. Trotzdem das 
natürliche Gefühl dem Selbstmord das Urteil 
spricht, hat es diesem an Verteidigern keineswegs 
gefehlt. War diese Apologie auf antik-heidnischem 
Standpunkt einigermaßen begreiflich, so bedeutet 
sie innerhalb der christlichen Kultur einen verhäng- 
nisvollen Rückschritt. Schon einige ältere Sekten, 
die Zirkumzellionen und Patrizianer im 4. Jahrh., 
hielten den Selbstmord für verdienstlich. Ins- 
besondere hat die deistische, materialistische und 
pantheistische Philosophie der Neuzeit die Ver- 
teidigung des Selbstmords übernommen. Die 
materialistische Weltanschauung weiß kein begrün- 
detes Argument gegen den Selbstmord anzuführen. 
Vor allem hat der Engländer David Hume 
die Erlaubtheit desselben nachzuweisen versucht. 
Seine Beweisführung ist eine platt rationalistische. 
Er will zeigen, daß der Selbstmord keinerlei 
Pflichtverletzung einschließe, nicht gegen Gott, 
weil, wenn wirklich die Verfügung über das 
menschliche Leben dem Allmächtigen vorbehalten 
wäre, es in gleicher Weise einen Eingriff in dessen 
Rechte sein würde, für die Erhaltung des Lebens 
zu sorgen: wenn ich einen Stein, der auf meinen 
Kopf zu fallen droht, abwende, so durchkreuze ich 
den Lauf der Natur ebenso, als wenn ich einige 
Unzen Blut durch das Offnen der Ader aus ihrem 
natürlichen Lauf ablenke. Wende man aber ein, 
der Selbstmörder versündige sich gegen den natür- 
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