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wählt, um eine sittliche Würde zu behaupten. Und
doch liegt im Selbstmord immer das Eingeständ-
nis, daß man sich außer stande fühlt, ein durch
den höchsten Willen auferlegtes Leiden zu tragen.
Auch wo scheinbar höhere Beweggründe, die
Rücksicht auf Ehre usw., den Selbstmord veran-
lassen, ist derselbe nicht anders denn als feiges
Waffenstrecken zu erklären, und es sind unchrist-
liche Wahnvorstellungen, denen das Leben feig
geopfert wird. So hoch die Standesehre auch in
ihrem sittlichen Wert angeschlagen werden muß,
so sind es doch krankhafte Auswüchse, wenn im
Namen der Standesehre eine Vernichtung des
Lebens als erlaubt, ja als gefordert bezeichnet
wird. Auch wenn gekränkte Ehre zu diesem Schritt
treibt, braucht die christliche Ethik ihr Verdikt über
den Selbstmord keineswegs zu modifizieren. Nur
wo das natürliche Sittlichkeitsgefühl erschüttert
und ein vollständiger Bankrott am christlichen
Glauben eingetreten ist, kann jemand, der durch
niedrige Verleumdung oder Beschimpfung in seiner
Ehre sich verletzt fühlt, die Rettung im Selbstmord
erblicken, anstatt sich zu sagen, daß ein Verleumder
ihm die Ehre nicht rauben könne und das Be-
wußtsein der Unschuld die äußere Ehrenkränkung
aufwiege. Ubrigens ist der beabsichtigte Erfolg
ein sehr zweifelhafter, da der Selbstmord ebenso-
gut als eine indirekte Bestätigung der erhobenen
Beschuldigung gedeutet werden kann. Wenn aber
diese begründet war, so ist es des Mannes würdig,
die Konsequenzen seines Handelns zu tragen und
Selbstmord.
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der einzige Faktor im modernen Gesellschaftsleben,
der nicht der Sentimentalität in der Beurteilung
des schrecklichen Phänomens verfallen ist, das ein-
zige Bollwerk, welches unerschütterlich den Stand-
punkt der Natur und Moral verteidigt. Wo
jedoch die unselige Tat nicht dem freien Willens-
entschluß, sondern geistiger Störung entspringt,
da tritt auch das Mitleid mit dem Unglücklichen
wieder in sein volles Recht, da findet die kirchliche
Zensur keine Anwendung. Zur Gestattung des
kirchlichen Begräbnisses genügt schon der Nach-
weis partieller psychischer Störung, und sie darf
angenommen werden nicht bloß auf ärztliches
Gutachten, sondern schon auf glaubwürdige In-
dizien hin. Das Prinzip: In dubio pro reo,
gilt auch hier, zudem ja auch die Hinterbliebenen
einen Anspruch darauf haben, daß dem Toten nicht
eine Schmach widerfahre, die er wirklich nicht
verdient hat. Wo aber nach reiflicher Erwägung
das kirchliche Begräbnis zu verweigern ist, da gilt
es auch, diese Maßregel konsequent und unpar-
teiisch zur Anwendung zu bringen, ohne Rücksicht,
ob es sich um reich oder arm, um Hochstehende
oder Proletarier handelt. „Hier einen Klassen-
unterschied zu machen, wäre äußerst verwerflich
und würde den gerechten Vorwurf einseitiger Par-
teilichkeit mit furchtbarer Erbitterung der Armen
und Geringenim Gefolgehaben" (Stöhr, Pastoral-
medizin I(I1909] 436). Gerade im Angesicht des
Todes provozieren derartige Begünstigungen einer
sozialen Klasse den Haß der „Enterbten“ in hohem
rad.
sich ihnen nicht feig zu entziehen. Ist dieses Rä-Grad
sonnement, lediglich das Resultat vernünftiger
Erwägungen, schon genügend, den Selbstmord,
auch wo er höheren Motiven zu entspringen scheint,
zu verurteilen, so weiß der Christ, daß die Ehre,
deren hoher Wert für eine gedeihliche Berufs-
tätigkeit außer Zweifel steht, keineswegs das höchste
Gut ist, das wertvoller als die äußere Ehrenhaf-
tigkeit das Urteil des Gewissens ist, und daß ein
Tag kommen wird, wo seine Ehre ihm wieder voll
und ganz hergestellt wird.
Ist der Selbstmord in seinem innersten Kern
etwas Unsittliches und eine Preisgabe jeder christ-
lichen Lebensauffassung, so erscheint es begreiflich,
daß die Kirche den Selbstmörder vom christlichen
Begräbnis ausschließt und sich von ihm lossagt, wie
er durch seine Verzweiflungstat sich von ihr los-
gesagt und jede Anwartschaft auf die Segnungen
der Kirche weggeworfen hat. Nichts wird der
Kirche mehr verübelt als diese angebliche Härte
gegen die unglücklichen Selbstmörder. Die Ver-
weigerung des christlichen Begräbnisses und Opfers
wird als Intoleranz und Inhumanität ausgelegt.
Die weichliche Sentimentalität und falsche Hu-
manität unserer Zeit, von der selbst das fein-
gebildete Griechenland sich frei erhielt, kommt
hierin zum Ausdruck. Es ist jedoch keineswegs
grausame Härte, sondern lediglich heilsame Strenge,
der berechtigte Ernst des Erziehers, was die Stel-
lung der Kirche in diesem Punkt bestimmt. Sie ist
Staatslexilon. IV. 3. u. 4. Aufl.
III. Moderne Verteidiger. Trotzdem das
natürliche Gefühl dem Selbstmord das Urteil
spricht, hat es diesem an Verteidigern keineswegs
gefehlt. War diese Apologie auf antik-heidnischem
Standpunkt einigermaßen begreiflich, so bedeutet
sie innerhalb der christlichen Kultur einen verhäng-
nisvollen Rückschritt. Schon einige ältere Sekten,
die Zirkumzellionen und Patrizianer im 4. Jahrh.,
hielten den Selbstmord für verdienstlich. Ins-
besondere hat die deistische, materialistische und
pantheistische Philosophie der Neuzeit die Ver-
teidigung des Selbstmords übernommen. Die
materialistische Weltanschauung weiß kein begrün-
detes Argument gegen den Selbstmord anzuführen.
Vor allem hat der Engländer David Hume
die Erlaubtheit desselben nachzuweisen versucht.
Seine Beweisführung ist eine platt rationalistische.
Er will zeigen, daß der Selbstmord keinerlei
Pflichtverletzung einschließe, nicht gegen Gott,
weil, wenn wirklich die Verfügung über das
menschliche Leben dem Allmächtigen vorbehalten
wäre, es in gleicher Weise einen Eingriff in dessen
Rechte sein würde, für die Erhaltung des Lebens
zu sorgen: wenn ich einen Stein, der auf meinen
Kopf zu fallen droht, abwende, so durchkreuze ich
den Lauf der Natur ebenso, als wenn ich einige
Unzen Blut durch das Offnen der Ader aus ihrem
natürlichen Lauf ablenke. Wende man aber ein,
der Selbstmörder versündige sich gegen den natür-
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