Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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lichen Trieb der Selbsterhaltung, so wird jener 
antworten, er fühle diesen Trieb nicht mehr, und 
damit sei ihm gleichsam von der Natur ein Wink 
gegeben, daß er das Leben verlassen dürfe. Eben- 
sowenig sei der Selbstmord ein Unrecht gegen die 
Sozietät. Denn wer andern durch sein Dasein 
mur zur Last sei und darauf verzichten könne, 
ohne jemand zu betrüben, begehe kein Unrecht, 
sondern erweise andern einen großen Dienst, indem 
er zeige, wie jedermann es in der Hand habe, 
einen Ausweg aus seinem Elend zu finden. Auch 
Schopenhauer, Carlyle, Nietzsche u. a. haben den 
Selbstmord zu rechtfertigen gesucht. Bekannt ist 
des letzteren Ausspruch: „Der Gedanke an den 
Selbstmord ist ein starkes Trostmittel, mit ihm 
kommt man gut über manche böse Nacht hinweg“ 
(Jenseits von Gut und Böse 97). Paulsen 
hält zwar den Selbstmord in der Regel für das 
Ende eines geistig, moralisch, wirtschaftlich, sozial 
zerrütteten Lebens, betrachtet es aber als unmög- 
lich, „die Erhaltung des eignen Lebens unter allen 
Umständen als Pflicht, die freiwillige Beendigung 
als Pflichtverletzung zu konstruieren“. Friedrich 
der Große habe während des siebenjährigen Kriegs 
stets ein Giftfläschchen mit sich geführt, um im 
Fall seiner Gefangenschaft davon Gebrauch zu 
machen, damit nicht das Land seine Interessen 
der Auslösung des Herrschers zu opfern in Gefahr 
käme. Aus ähnlichem Motiv habe Themistokles 
gehandelt; ähnlich handle der Kapitän, der sich 
mit seinem Schiff in die Luft sprenge, um es dem 
Feind nicht in die Hände fallen zu lassen; nie- 
mand könne darin etwas Unmoralisches finden. 
Solche und ähnliche Fälle aus der Profan= und 
Kirchengeschichte ließen sich zahlreiche anführen. 
Häufig genug haben christliche Jungfrauen sich 
den Angriffen auf ihre Keuschheit durch einen selbst- 
gesuchten Tod entzogen. Noch aus der neuesten 
Zeit wird berichtet, bei der Belagerung der euro- 
päischen Gesandtschaften in Peking hätten die 
Frauen stets Revolver bereit gehalten, um im Fall 
der Einnahme der Gesandtschaften sich den in 
Aussicht stehenden Greueln zu entziehen. Wo es 
sich um so edle, ja bewundernswerte Motive han- 
delt, wird man sich besinnen, von Selbstmord im 
herkömmlichen Sinn zu sprechen, vielmehr handelt 
es sich um Taten heroischer Selbstaufopferung, 
wenngleich der Irrtum unterläuft, es sei tugend- 
haft, ja unter Umständen strenge Pflicht, sich selbst 
das Leben zu nehmen, um einen hohen sittlichen 
Zweck zu erreichen. Darum ist ein solches Tun 
zwar objektiv und materiell im Widerspruch mit 
dem Sittengesetz, aber formell und subiektiv schuld- 
frei, ja ein hohes Verdienst. Dennoch muß man 
prinzipiell unterscheiden zwischen dem passiven Ge- 
schehenlassen, welches das Wesen der sittlich er- 
laubten Selbstaufopferung ausmacht, und der 
eigenmächtigen Herbeiführung der Todesursache. 
Im ersteren Fall nimmt man im Dienst einer 
großen Idee ein sich aufdrängendes hartes Ge- 
schick mutvoll auf sich, man führt die Todesursache 
  
Selbstmord. 
  
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nicht selbsttätig herbei, sondern läßt sie an sich 
herankommen. Von Selbstmord ist hier um des- 
willen nicht die Rede, weil die Absicht nicht un- 
mittelbar darauf gerichtet ist, sich selbst zu töten, 
sondern einen edeln Zweck mit Gefahr des Todes 
zu erreichen. Prinzipiell wenigstens muß dieser 
Unterschied zwischen dem passiven Verzicht auf das 
Leben und dem aktiven Setzen der Todesursache 
festgehalten werden, wenn auch die Grenze, wo# 
das Geschehenlassen ins Handeln übergeht, nicht 
jedesmal sicher zu ziehen ist, und wenn insbeson- 
dere jene, die in derartigen drangvollen Situa- 
tionen sich befinden und unter dem Druck mächtiger 
Einwirkung sich entscheiden müssen, selten Zeit und 
ruhige Überlegung besitzen werden, um auch ob- 
jektiv das Richtige zu treffen. Das Entscheidende 
liegt darin, daß derjenige, der um eines großen 
Zwecks willen sich in Todesgefahr begibt, sich den 
Händen Gottes überantwortet und in christlicher 
Hoffnung auf dessen Hilfe baut, während jener, 
der sich selbst den Tod gibt, sich der Hand Gottes 
entzieht und eigenmächtig sein Schicksal herbei- 
führt (Linsenmann, Moraltheol. 118781 258). 
Manche Theologen, z. B. Augustin (De civ. Dei 
1, 26), Thomas von Aquin (8. th. 2, 2, q. 64, 
a. 5 ad 4), sind der Meinung, daß manche Hei- 
lige, die um eines sittlichen Ideals willen selbst 
den Tod gesucht, auf höhere Eingebung gehandelt 
haben. 
Aber Paulsen geht in der Apologie des Selbst- 
mords noch einen Schritt über den Fall der ak- 
tiven Selbstaufopferung hinaus. Auch dann, 
wenn der Entschluß gefaßt werde, um einem un- 
erträglichen Leiden zu entgehen, würde er nicht 
den Mut finden, die Handlung für verwerflich zu 
erklären. „Wenn jemand, von irgend einem Ver- 
druß oder einer Enttäuschung getroffen, feige und 
kopflos sich davonmacht und die Seinen in Kum- 
mer und Not zurückläßt, so ist ein herbes Ver- 
werfungsurteil nicht ungerecht. Wenn er aber ein 
hoffnungsloses und schmerzliches Leiden nicht mehr 
tragen kann, wenn er empfindet, daß alle Welt 
seiner müde ist und durch seinen Abgang sich 
lediglich erleichtert fühlte, so wird das unbefangene 
Gemüt anders urteilen. Freilich, wir werden 
sagen: groß und erhebend ist es, wenn jemand 
großes und schweres Leid mit ruhiger Geduld bis 
zum Ende ausharrend erträgt, wir bewundern den 
Helden im Leiden so gut wie den Helden im 
Kampf. Aber Heldentum ist nicht Pflicht, es ist 
verdienstlich, ein Held zu sein, aber es ist mensch- 
lich, es nicht zu sein. Wir versagen dem, der 
unter der Last zusammenbricht, unsere Teilnahme 
nicht und vergessen nicht das Wort der Barm- 
herzigkeit: Wer ohne Schuld ist, hebe den ersten 
Stein auf. Wer da sagt, Selbstmord ist Selbst- 
mord und als solcher verwerflich, da ist kein Unter- 
schied, mit dem ist nicht zu streiten; sein eignes 
Gefühl wird ihn im gegebenen Fall widerlegen“ 
(a. a. O. II 118 f). Eine solche rationalistische 
Auffassung vom mernschlichen Leiden schlägt der
	        
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