Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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christlichen Lebensanschauung direkt ins Gesicht; 
sie widerlegt sich durch das, was oben gegen die 
Erlaubtheit des Selbstmords gesagt wurde. Auf 
das „Wort der Barmherzigkeit“ sich zu beziehen, 
hat Paulsen kein Recht, da gerade der Gottmensch 
die Menschheit zur Nachfolge in seiner Leidens- 
schule aufgefordert hat. 
IV. Augenügende Argumente gegen den 
Selkbstmord. Es bleiben noch einige Argumente 
kurz zu würdigen, die vielfach gegen den Selbst- 
mord verwertet werden, die jedoch für sich allein 
keineswegs zur Verwerfung desselben genügen. 
Man sagt, er sei ein Eingriff in die Majestäts- 
rechte Gottes; der Mensch habe sich das Leben 
nicht selbst gegeben, könne es darum auch nicht 
beliebig beenden. Allein auch die andern äußern 
Güter hat der Mensch sich nicht selbst gegeben, 
ohne daß darum ein Verfügungsrecht über die- 
selben ausgeschlossen wäre. Es ist auch gar nicht 
wahr, daß der Mensch kein Verfügungsrecht über 
sein Leben besitze; denn es gibt ein Recht, ja eine 
Pflicht, sein Leben hinzugeben. Wenn man sagt, 
der Selbstmord sei im Widerspruch mit dem fünften 
Gebot, so ist es an sich ja richtig, daß der Selbst- 
mord in diesem Verbot eingeschlossen ist, aber doch 
erst dann, wenn bewiesen wird, daß er eine Sünde 
gegen das fünfte Gebot ist. Der Wortlaut dieses 
Gebots, der ja allgemein gehalten ist und sicher 
auch die Tötung des eignen Lebens verbietet, könnte 
dahin ausgelegt werden, daß hier der Eingriff in 
ein fremdes Recht verboten sei, was beim Selbst- 
mord nicht zutreffe. 
Andere stellen den Selbstmord hin als ein Ver- 
brechen gegen die Gesamtheit, sofern diese eines 
Gliedes beraubt wird. Aber es wird meist der Fall 
sein, daß die Gesellschaft in ihren Rechten nicht nur 
nicht geschädigt, sondern von einem verworfenen, 
schädlichen Subjekt befreit wird. Der Regel nach 
entschließt sich zu diesem Verzweiflungsschritt doch 
nur ein moralisch vollständig erschöpftes Subjekt. 
Wenn dann gesagt wird, ein solcher könne, wenn 
er sonst keinen Nutzen stiften könnte, doch dadurch 
der Gesamtheit etwas leisten, daß er sein Elend mit 
christlicher Standhaftigkeit ertrage und dadurch an- 
dern eine lebendige Aufforderung sei, in keiner noch 
so schwierigen Lage zu verzweifeln, so wird eben 
dabei vergessen, daß es sich zumeist um Personen 
handelt, deren Willensenergie völlig gebrochen ist. 
Es ist ein idealer Gesichtspunkt, dem die Wirklich- 
keit nur selten entspricht. Daß die Rücksicht auf 
die Sozietät nicht der ausreichende Grund für die 
Verwerflichkeit dieses Schrittes ist, ergibt sich schon 
daraus, daß eine Aufopferung des eignen Lebens 
gerade darum erlaubt sein kann, weil sie für das 
Gemeinwohl Wert hat. Und hier sind es doch 
jedenfalls die besten Elemente, deren die Gesell- 
schaft verlustig geht. 
V. Selbstmordfrequenz; Einfluß der Be- 
ligion bzw. Konfession. Der Moralstatistiker 
steht vor der unheimlichen Frage: Woher die 
Häufigkeit des Selbstmords? Wenn auch die Zu- 
Selbstmord. 
  
  
  
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nahme, die der Selbstmord in neuester Zeit er- 
fahren hat, nicht übertrieben werden darf (v. Mayr 
a. a. O. 706), so steht doch für Europa, entgegen 
der deutschen Entwicklung, eine konstante Zu- 
nahme der Selbstmorde fest (ebd. 713). In Frank- 
reich ist in dem halben Jahrhundert von 1826 
bis 1875 der Jahresdurchschnitt von 54 auf 150 
Selbstmorde auf 1 Mill. Einwohner gestiegen, 
in Preußen von 1816 bis 1877 von 70,2 auf 
173,5. Während aber ersteres in der Zeit von 
1881 auf 1898 eine Steigerung von 207 auf 246 
erfahren hat, weist letzteres in der gleichen Periode 
(1881 bis 1899) einen Rückgang von 200 auf 
189 auf. 
Zur Erklärung der Selbstmordhäufigkeit werden 
vor allem die sozialen und wirtschaftlichen Zustände 
der einzelnen Länder angeführt. Vielfach will man 
ausschließlich den letzten Grund in der Hyperkultur, 
in der zunehmenden sozialen Differenzierung er- 
blicken. Der Selbstmord komme bei den europäi- 
schen Völkern um so häufiger vor, je intensiver 
ihre Teilnahme am modernen Kulturleben sei, und 
da dieses in seiner Eigenart naturgemäß mehr in 
den Städten als auf dem platten Land hervor- 
trete, seien die großstädtischen und industriellen 
Bezirke am stärksten beteiligt. Daran ist auch nicht 
zu zweifeln, daß in unserem Kulturleben Tendenzen 
wirksam sind, welche eine bedeutende Zunahme 
der Selbstmordziffer verursacht haben. Industriell 
hochentwickelte Länder wie das Königreich Sachsen 
weisen eine bedeutende Selbstmordziffer auf. Ja- 
pan hat mit dem Übergang zur europäischen Kul- 
tur und ihren Schattenseiten auch eine bedeutende 
Vermehrung der Selbstmorde erfahren. Ebenso 
steht die Tatsache der größeren Selbstmordziffer 
in den Städten außer Zweifel. „Die städtische 
Bevölkerung ist in jeder Hinsicht viel ausgiebiger 
differenziert als die ländliche. Darin finde ich“, 
bemerkt v. Mayr (a. a. O. 714), „den Urgrund 
ihrer höheren Selbstmordziffer. Denn auch die Ver- 
mehrung der Selbstmorde isteine Differenzierungs- 
erscheinung der Gesellschaft. Was bei primitiven 
Zuständen in der Brust vieler als gelegentlich 
schwacher Wunsch des Nichtseins auftritt, das ver- 
dichtet sich bei fortschreitender sozialer Differenzie- 
rung des einzelnen bis zur Tat. Je mehr der 
Differenzierungsprozeß der Gesellschaft, nament- 
lich durch wirtschaftliche und Bildungsforschritte, 
beschleunigt wird, um so mehr muß im allgemeinen 
die Selbstmordtendenz durchdringen, sofern nicht 
gleichzeitig entgegenstehende Faktoren Stärkung 
erfahren. Die Typen dieser differenzierenden Ent- 
wicklung aber sind gerade unsere Großstädte.“ Da 
gerade die gebildetsten Klassen das stärkste Kon- 
tingent zu stellen scheinen, so liegt die Annahme 
nahe, daß im Wesen der modernen Kultur die 
Erklärung der — gegenüber im Mittelalter — sehr 
hohen Selbstmordziffer gesucht werden müsse. In 
der Tat ist es nicht schwer, solch begünstigende 
Momente aufzufinden, die man mit Paulsen 
(a. a. O. II 115) als Entfernung von den 
35“
	        
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