fullscreen: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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selbst, daß die Gestaltung der staatlichen Straf- 
gewalt auf diesem Gebiet wesentlich durch die 
herrschenden Anschauungen über Moral und Sitt- 
lichkeit beeinflußt wird. Sie muß notwendig eine 
andere sein im christlichen Staat, welcher der 
durch das Christentum begründeten Moral= 
anschauung Rechnung zu tragen hat, als im heid- 
nischen Zeitalter, das andere Sittlichkeitsbegriffe 
hatte. Aber auch ohne Rücksicht auf die durch die 
Religionsverschiedenheit bedingte Verschiedenartig- 
keit der Sittlichkeitsvergehen wird die Bestrafung 
selbst eine schärfere oder mildere sein und die 
Grenzen für den Kreis der von ihr zu treffenden 
Handlungen weiter oder enger ziehen, je nachdem 
die Moralauffassung des betreffenden Landes oder 
der Zeit strenger oder lauer ist. 
Im römischen Recht ist es vor allem die 
lex lulia de adulterüs coérCendis, im 8. Jahrh. 
post urb. cond., die in weitem Umfang und mit 
großer Schärfe gegen die Verletzungen der Sitt- 
lichkeit vorging. Insbesondere wurden nicht nur 
der incestus (Blutschande), sondern auch das 
adulterium (Ehebruch), das lenocinium (Kup- 
pelei) und das stuprum (außerehelicher Beischlaf 
mit einer virgo vel vidua honeste vivens) unter 
Strafe gestellt. Die lex lulia hat auf Jahrhun- 
derte hinaus die Grundlage für die Bestrafung der 
Sittlichkeitsdelikte gebildet. Das deutsche Recht 
enthielt schon früh, namentlich gegen den Ehebruch 
der Frau, sehr harte Strafbestimmungen. Erst 
mit der Einführung des kanonischen Rechts 
aber wurde dem Grundgedanken, daß es sich bei 
der Bestrafung auf dem Gebiet der Sittlichkeit um 
den Schutz gegen Verletzung des Sittlichkeits- 
gefühls handelt, praktische Geltung verschafft. Über 
die lex lulia hinaus waren deshalb insbesondere 
auch das Konkubinat, die Sodomie, die Entfüh- 
rung, das Halten von Bordellen mit Strafe be- 
droht. Im Laufe des 18. Jahrh. zeigte sich da- 
gegen infolge der allgemein freigeistigen Richtung, 
von der namentlich auch die Gesetzgebung auf 
diesem Gebiet beeinflußt wurde, eine der Richtung 
des vorhergehenden Jahrhunderts gerade entgegen- 
gesetzte große Laxheit in der Behandlung der Sitt- 
lichkeitsvergehen. In der gegenwärtigen Zeit 
stehen die Gesetzgebungen wenigstens im allgemei- 
nen auf dem bereits angegebenen Grundsatz, daß 
es Aufgabe des Staats ist, seine Angehörigen 
gegen Verletzungen des Sittlichkeitsgefühls zu 
schützen, daß deshalb alle Handlungen als Sitt- 
lichkeitsvergehen oder -verbrechen zu bestrafen sind, 
die gegen das allgemeine Sittlichkeitsgefühl ver- 
stoßen. Die Verletzung des Sittlichkeitsgefühls 
bildet das entscheidende Moment für die Quali- 
fizierung einer Handlung als Sittlichkeitsdelikt. 
Deshalb werden Notzucht und Mißbrauch von 
Kindern unter 14 Jahren nicht etwa wegen des 
darin liegenden Zwangs gegen die Person als 
Vergehen gegen die persönliche Freiheit, sondern 
wegen der damit verbundenen Verletzung des 
Sittlichkeitsgefühls als Sittlichkeitsdelikte bestraft. 
Sittlichkeit usw. 
  
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Ebenso ist der Inzest nicht als Vergehen gegen 
die Familienrechte, sondern als Sittlichkeitsver- 
brechen mit Strafe bedroht. Der Eingriff in die 
persönliche Freiheit und in die Familienrechte 
wirkt hierbei nur durch die Höhe der angedrohten 
Strafe. 
Von diesem Grundsatz ist jedoch insofern ab- 
gewichen, als für das einfüche Stuprum, also den 
außerehelichen Beischlaf an sich, weil man mit ihm 
als einem notwendigen Übel rechnen zu müssen 
glaubte, allgemeine Straffreiheit gewährt ist. 
Strafe tritt hier, ebenso wie in den Fällen der 
Onanie nur ein, wenn durch die Handlungen 
öffentlich Argernis erregt ist. Dasselbe gilt bezüg- 
lich des Konkubinats. 
Als ein Zeichen für den Niedergang der sitt- 
lichen Anschauung muß es aufgefaßt werden, daß 
seit einiger Zeit namentlich aus gewissen künst- 
lerischen, schriftstellerischen und medizinischen 
Kreisen heraus eine Bewegung inszeniert wird, 
die auf Beseitigung der Strafbestimmungen gegen 
die widernatürliche Unzucht, insbesondere 
des die homosexuellen Perversitäten treffenden 
§ 175 des St.G.B. gerichtet ist. Infolge der be- 
kannten Kriminalprozesse, die sich an den Namen 
Eulenburg anknüpfen, ist diese Bewegung seit dem 
Jahr 1907 gewaltig abgeflaut, ja in das Gegen- 
teil umgeschlagen. Aus zahlreichen Kreisen sind 
Petitionen an die gesetzgebenden Körperschaften 
gelangt, in welchen eine Ausdehnung und Ver- 
schärfung der Strafbestimmungen des 8 175 
St.G.B. verlangt wird. Diese Petitionen sind 
in der Reichstagskommission einstimmig zur An- 
nahme gelangt, indem sie dem Bundesrat zur Be- 
rücksichtigung überwiesen wurden, und das Plenum 
des Reichstags ist dem Beschluß der Kommission 
ohne Widerspruch beigetreten. 
Das deutsche Strafgesetzbuch bedroht die Un- 
zucht zwischen Personen des männlichen Geschlechts 
(Päderastie, sodomia ratione sexus) und zwi- 
schen Mensch und Tier (Bestialität, sodomia 
ratione generis). Das Verlangen nach Aus- 
scheidung dieser Strafbestimmung wird haupt- 
sächlich mit der an sich zwar wohl kaum bestreitbaren 
Tatsache begründet, daß in manchen Fällen eine 
krankhafte Störung des körperlichen Organismus 
oder eine Anomalie der Naturanlage vorhanden 
sei. Allein, sind die Störungen derart, daß da- 
durch die Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft wird, 
dann muß schon nach allgemeinem Grundsatz des 
Strafgesetzes Straffreiheit eintreten. Ist das aber 
nicht der Fall, begeht also der Täter mit Bewußt- 
sein eine an sich doch jedenfalls grob unsittliche 
Handlung, durch die das Sittlichkeitsgefühl an- 
derer schwer verletzt wird, dann ist es gerecht, ihn 
dafür zu bestrafen, und nur bei der Abmessung der 
Strafe die durch die etwa vorhandene krankhafte 
Beanlagung stattfindende Beeinflussung seines 
Willens in Rücksicht zu ziehen. Man wird aber 
wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß in der 
erdrückend großen Mehrzahl der Fälle die wider-
	        
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