Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Rußland keinerlei Anhalt für die neuen Studien 
fand, denen er gleich bei seiner Rückkehr nach der 
Schweiz seine Aufmerksamkeit und Arbeitskraft zu- 
gewandt hatte. Den Entwurf einer „Verfassungs- 
geschichte der freien Völker“ stellte er auf den klugen 
Rat seiner Mutter als unzeitgemäß zurück und 
begann im Jahr 1803 die Histoire des Ré- 
publiques italiennes au moyen age, die er 
(Zürich und Paris 1807/18) in 10 Bänden voll- 
endete. Das Werk behandelte die damals wenig 
gekannte Geschichte der italienischen Städte- 
republiken, die auf den Trümmern der römi-) 
schen Munizipien oder späteren Feudalbaronien 
entstanden waren, ihr inneres Leben, ihre Ver- 
fassungsstreitigkeiten, ihre Größe und ihren Verfall. 
Der Erfolg der beiden ersten Bände ließ ihn 
immer wieder auf diese Arbeit, der die Einbeit, 
das Quellenstudium und die tiefere Durcharbei- 
tung fehlt, zurückgreifen, wenn er sich auch mit 
ganz andern Plänen und Arbeiten befaßte. Die 
gehässige und religionsfeindliche Einseitigkeit des 
Urteils in der Herabsetzung der religiösen und 
sozialen Vergangenheit italienischer Größe und 
Machtentfaltung veranlaßte Al. Manzoni zu 
einem wirkungsvollen Protest. 
Durch Necker war Sismondi bald nach 1803 
Frau v. Stasl nahe getreten und hatte in ständigem 
Verkehr auf Haus Coppet, im Umgang mit Ben- 
jamin Constant, dem Schweizer Geschichtschreiber 
Johannes v. Müller, Aug. v. Schlegel, Cuvier 
u. a. seine Aufmerksamkeit den neuen hier be- 
triebenen Literaturstudien zugewandt und 
gelernt, wie Mignet sagt, „seiner Schreibweise 
größere Achtsamkeit zuzuwenden". Er hatte mit 
Frau v. Staêl 1804/08 die italienischen und 
deutschen Reisen gemacht und die Geschichte der 
italienischen Republiken wieder aufgenommen. Auf 
Grund von Vorlesungen über die Literaturen 
Südeuropas (Genf 1811), deren Ursprünge, Texte, 
Geschichte er in ihrem Zusammenhang mit der 
politischen und religiösen Volksentwicklung analy- 
sierte, entstand sein bestes Werk: Littérature du 
Midi de IEurope (4 Bde, Paris 1813 u. ö.; 
deutsch 2 Bde, Leipzig 1815). In Paris, wo 
er behufs Vollendung des Werks längeren Auf- 
enthalt genommen, war er in den liberal-anti- 
napoleonischen Kreisen bald sehr gefeiert, auch von 
Chateaubriand, den er übrigens scharf, aber richtig 
beurteilte, als einen Denker beim Sprechen, als 
Gefühlsmenschen beim Schreiben. Dies vermin- 
derte indes nicht seine altgewurzelte Vorliebe für 
absolutistische Politik. 1813 ward er Mitglied 
des Genfer Großen Rats. 
Die Furcht vor dem Sieg der Restauration, 
d. h. der Unterbrechung der liberalen Neurevolution 
ließ ihn mehr noch als Benjamin Constant (s. d. 
Art.) und seine Freunde bei der Rückkehr Napo- 
leons von Elba einen vollständigen Frontwechsel 
in seiner bisherigen Haltung und Gesinnung vor- 
nehmen. „Er fing Feuer“, sagt Ste Beuve, der 
ihm befreundet war, „für die Idee einer Erhebung 
Sismondi. 
  
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Frankreichs, einer Bekehrung des Kaiserreichs zur 
Freiheit, und er unternahm es, im Moniteur die 
Echtheit der im Acte additionel (26. Mai 1815) 
den Bürgern Frankreichs gegebenen Verfassungs- 
garantien zu verteidigen.“ Napoleon, neugierig, 
„den freiwilligen Verfassungsrekruten“, der im 
Moniteur durch den Artikel Examen de la con- 
stitution sein Versrrechen eingeli, näher kennen 
zu lernen, hatte mit ihm bereits am 3. Mai eine 
Zusammenkunft, die nach Aufzeichnungen des 
Sismondischen Tagebuchs (s. u.) ebenso charakte- 
ristisch für Napoleon wie für seinen Verteidiger ist. 
Auf die Klage des letzteren über den Widerstand 
gegen die Verfassung sagte der Kaiser: „Das 
wird schon vergehen; so sind die Franzosen: sie 
sind für diese Ideen nicht reif.“ — „Und sie ver- 
stehen nicht“, fügte Sismondi bei, „einzusehen, 
daß das System Ew. Majestät notwendig ein 
anderes geworden. Als Repräsentant der Revo- 
lution sind Sie nun ein neuer Verbündeter jeder 
liberalen Idee, denn die Partei der Freiheit ist 
hier wie im ganzen übrigen Europa Ihr einziger 
Alliierter.“ 
Der abermalige Sturz Napoleons und die 
Fehler der Restauration, „die Mißbräuche der 
Schwäche“", wie Sismondi meinte, „nach den 
Mißbräuchen der Gewalt“, ließen ihn fortan in 
der vorderen Reihe des neurevolutionären Libe- 
ralismus kämpfen, der unter der Flagge des 
Humanitarismus, der Volks= und Menschen- 
befreiung die Verwirklichung der Ziele von 1792 
unausgesetzt im Auge behielt. Als eine frühreife 
Frucht dieser Bewegung muß die Schrift Sis- 
mondis über, wie er selbst betonte, „neue Prin- 
zipien“ der Nationalökonomie angesehen 
werden, welche 1819 erschien unter dem Titel: 
Nouveaux principes d’économie politique, ou 
de la richesse dans ses rapports avec la po- 
pulation (2 Bde, Paris, deutsch 2 Bde, Berlin 
1901/02). Der schreiende Gegensatz zwischen dem 
immer erschreckender werdenden Wachstum des 
Pauperismus und des namentlich durch die Ma- 
schinenproduktion gesteigerten Industriereichtums 
war in den Augen Sismondis ein sozialer Rück- 
schritt, dessen Erklärung er in der fehlerhaften 
neuen Verfassung des Industrielebens suchte, ohne 
sie zu finden, und für welchen er Heilmittel vor- 
schlug, an deren Wirksamkeit er zuletzt selbst ver- 
zweifelte. Das Werk machte ungeheures Aufsehen 
und gob alsbald den entstehenden Schulen der 
Sozialisten die besten Waffen ihrer Agitation, so 
daß Sismondi in der zweiten Ausgabe der Schrift 
von 1827 jede Solidarität mit ihnen ablehnen 
mußte. Die volle Bedeutung der von Sismondi 
entwickelten Prinzipien für die Umbildung der 
liberalen Gesellschaftsordnung in die sozialistische 
erkannten die damaligen in der Hochflut des libe- 
ralen Utopismus schwimmenden Saint-Simonisten 
nicht, zumal Sismondi sich jetzt ausschließlich der 
1819 von ihm begonnenen Histoire des Fran- 
Lais (Paris 1821/44, 31 Bde) zuwandte, durch
	        
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