Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Gegen die polizeiliche Reglementierung wird 
nicht ohne Grund eingewendet, daß sie sich ge- 
wissermaßen als ein der Würde des Staats nicht 
entsprechender Pakt mit dem Laster darstelle und 
in direktem Widerspruch mit der grundsätzlichen 
Verwerflichkeit der gewerbsmäßigen Unzucht stehe. 
Nach dem Schlußsatz des § 361, Nr 6 ist der 
gewerbsmäßige Unzuchtsbetrieb von Frauensper- 
onen, die der polizeilichen Aufsicht nicht unter- 
stellt sind, mit Strafe bedroht; er wird aber straf- 
frei, wenn die betreffenden Personen sich unter 
polizeiliche Kontrolle stellen. Die polizeiliche 
Kontrolle macht also straffrei, was an sich 
strafbar ist und tatsächlich auch bestraft wird; sie 
gewährt mithin im wahren Sinn des Worts die 
Konzession zum Unzuchtsbetrieb. Dieser un- 
leugbare innere Widerspruch ist eine notwendige 
Folge von dem grundsätzlich jedenfalls nicht zu 
billigenden Standpunkt, daß der Staat die ge- 
werbsmäßige Unzucht als ein notwendiges 
Übel zu dulden habe. Die Nützlichkeitsgründe, die 
für die Duldung und Reglementierung angegeben 
werden: daß jedenfalls das Laster eingedämmt und 
die Gefahr der Ansteckung verringert werde, müssen 
nach den Erfahrungen, die auf diesem Gebiet von 
Autoritäten gesammelt worden sind, zum mindesten 
als sehr zweifelhaft bezeichnet werden. Anderseits 
aber ist nicht zu bestreiten, daß durch eine strengere 
Bestrafung die Ausschreitungen der Prostitution 
und die Gefahr für die öffentliche Moral und Ge- 
sundheit erheblich verringert werden müßten. Daß 
insbesondere die reglementmäßige ärztliche Unter- 
suchung keine Gewähr für die Freiheit von Ge- 
schlechtskrankheiten gibt, wird allerseits zugegeben. 
Anderseits aber liegt eine große Gefahr darin, daß 
die Prostituierte auf Grund der ärztlichen Unter- 
suchung, der sie unterworfen ist, den trügerischen 
Schein des Freiseins von ansteckender Krankheit 
für sich hat. 
Von großer Bedeutung auf dem Gebiet der 
Sittenpolizei und sehr umstritten ist die Frage der 
Kasernierung des Unzuchtsbetriebs, also das 
Bordellwesen. Manche erhoffen von der 
Kasernierung des Lasters sowohl die Säuberung 
der Straßen von dem schamlosen Treiben der 
Dirnen als auch, wegen der erleichterten ärztlichen 
Kontrolle, den wirksamsten Schutz gegen die Ge- 
fahr der Ansteckung. Das könnte, wenigstens in 
einem gewissen Maß, zutreffen, wenn es möglich 
wäre, eine völlige Kasernierung durchzuführen, 
so daß ein gewerbsmäßiger Unzuchtsbetrieb außer- 
halb der Bordelle gar nicht oder doch nur in be- 
schränktem Umfang noch stattfinden würde. Wie 
aber sollte zu ermöglichen sein, alle der Prostitution 
ergebenen Frauenspersonen in Bordelle unter- 
zubringen! Obgleich sich die Kasernierung selbst- 
redend nur auf diejenigen Prostituierten erstrecken 
könnte, die der Polizei als Dirnen bekannt sind 
und unter polizeilicher Kontrolle stehen, so würde 
schon die Unterbringung allein dieser Kontrollierten 
große Schwierigkeiten bieten. Nun aber ist die 
  
Sittenpolizei. 
  
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Zahl derjenigen Frauenspersonen, die, ohne der 
Kontrolle unterstellt zu sein, weil sie ihr Treiben 
vor der Polizei zu verheimlichen wissen, das Laster 
gewerbsmäßig treiben, ungleich höher als die Zall 
der Inskribierten; es wird ziemlich allgemein an- 
genommen, daß sie sich auf das Sieben= bis Zehn- 
fache beläuft. Diese Personen würden also auch 
fernerhin außerhalb der Bordelle ihrem Gewerbe 
nachgehen, so daß von einer Eindämmung des 
Lasters oder auch nur von einer nennenswerten 
Verringerung der Ansteckungsgefahr nicht die Rede 
sein kann. Es ist denn auch festgestellt, daß in 
Städten, in welchen bisher Bordelle nicht bestau- 
den, nach Einführung der letzteren die Zahl der 
Prostituierten, anstatt abzunehmen, in auffallender 
Weise gewachsen ist und die Fälle der Ansteckung 
sich vermehrt haben. Die Erleichterung des ge- 
schlechtlichen Verkehrs durch die Einrichtung der 
Bordelle hat eben naturgemäß auch eine größere 
Verbreitung des Lasters zur Folge. Gerade in 
dieser Erleichterung des Unzuchtsbetriebs, noch 
mehr aber in der heillosen Verwirrung des Moral- 
begriffs, die dadurch im Volk herbeigeführt werden 
muß, daß das Laster öffentlich für straflos erklärt, 
gewissermaßen privilegiert und ihm ein staatlich 
gesichertes Heim gewährt wird, liegt das schwere, 
zi- wegzuräumende Bedenken gegen das Bordell- 
wesen. 
Zurzeit ist die Einrichtung von Bordellen durch 
die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs gegen die 
Kuppelei untersagt. Die Polizeibehörde zeigt aber 
gegenüber der Umgehung dieses Verbots durch 
Einrichtung sog. „geheimer“ Bordelle, Absteige- 
quartiere, Animierkneipen usw. eine solche Dul- 
dung und Nachsicht, daß im Publikum durchweg 
die Meinung besteht, die Bordelle seien gesetzlich 
gestattet, wenn durch den Betrieb derselben nur nicht 
die Offentlichkeit in unangenehmer Weise berührt 
werde. Inzwischen wächst die Zahl der Prosti- 
tuierten wenigstens in allen größeren Städten in 
erschreckendem Maß, und zwar weit über das pro- 
zentuale Verhältnis des Zuwachses der Bevölke- 
rung hinaus. In zahlreichen Städten sind die 
Polizeibehörden und die kommunalen Vertretungs- 
körperschaften zur Beratung von Maßnahmen 
gegen das überhandnehmende Prostitutionsun- 
wesen zusammengetreten. Es ist hierbei eine auf- 
fallende Erscheinung, daß meistenteils diejenigen 
Städte, in denen bisher der Bordellbetrieb mehr 
oder weniger unterdrückt war, eine Besserung der 
Zustände von der uneingeschränkten Zulassung 
dieses Betriebs, also der gesetzlichen Konzessio- 
nierung, erwarten, daß dagegen diejenigen Städte, 
in denen die Bordellwirtschaft bisher schon un- 
behindert betrieben wurde, nach Aufhebung dieser 
Stätten des Lasters im Interesse der Hebung der 
öffentlichen Sittlichkeit verlangen. Ein Beweis 
der allseitigen Ratlosigkeit gegenüber dem wachsen- 
den Unzuchtsbetrieb! Alle diese Moßnahmen 
treffen das ÜUbel nicht an der Wurzel. Durch 
Konzessionen, die man dem Laster macht, wird
	        
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