Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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dasselbe nicht eingedämmt. Das gilt auch von 
der sog. Lokalisierung der Prostitution, d. h. 
der Zurückdrängung in gewisse Straßen, einer 
Maßnahme, der dieselben Bedenken entgegenstehen 
wie der Kasernierung. Soll eine wirkliche Besse- 
rung erfolgen, dann ist alles daranzusetzen, daß 
die heranwachsende Jugend sittlich rein erhalten 
bleibt. Wächst eine Generation heran, die schon 
in der Jugend sittlich vergiftet ist, dann wird es 
den schärfsten Mitteln der Staatsgewalt nicht ge- 
lingen, später die Ausübung des Lasters zu ver- 
hindern. Alle Versuche, das einmal vorhandene 
Laster zu unterdrücken, werden nur geringen oder 
gar keinen Erfolg haben, das einmal vorhandene 
Laster wird jeden Damm durchbrechen und nach 
der einen oder andern Richtung hin seine Be- 
friedigung suchen und finden. Es kommt daher 
alles darauf an, der heranwachsenden Jugend 
einen wirksamen Schutz gegen die sittliche Ver- 
gistung zu gewähren. 
Die größte Gefahr für die noch unverdorbene 
Jugend aber liegt in der Überflutung des Landes 
mit unsittlichen Schriften und Bildern, in der 
öffentlichen Ausstellung anstößiger Darstellungen 
und Machwerke und in den schamlosen Theater- 
und Bühnenaufführungen. Die frühzeitige Er- 
regung des Geschlechtstriebs, die Uberreizung der 
Sinnlichkeit führt bei noch jugendlichen Personen 
fast notwendig zu sexuellen Verfehlungen, die dann 
von selbst das spätere Unzuchtslaster zur Folge 
haben. Hier bessernd einzugreifen, war die lex 
Heinze bestimmt, deren Zustandekommen jedoch 
an der Obstruktion des Reichstags im Jahr 1900 
gescheitert ist. 
Literatur: Streitfragen. Wissenschaftliches 
Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine, Jahrg. 
1892,. Hft 6, u. Jahrg. 1893, Hft 1 u. 2; Schmöl- 
der, Die Bestrafung u. polizeiliche Behandlung der 
gewerbsmäßigen Unzucht (1892); Stursberg, Die 
Prostitution u. ihre Bekämpfung (1887); Com- 
menge, La prostitution clandestine à Paris (Par. 
1897); Moeller, Réglementation de la prostitution, 
im Bulletin de I’Academie royale de médic. de 
Belgique XX (1886); Handwörterbuch der Staats- 
wissenschaften von Conrad usw., Art.,Prostitution“; 
v. Stengel, Wörterbuch, Bd lI: S.; Roeren, Sitt- 
lichkeitsgesetzgebung der Kulturstaaten (1907; Koe- 
selsche Sammlung Nr 14, S. 87 f); Volkswart, 
Monatsschrift des Verbands der Vereine zur Be- 
kämpfung der öffentl. Unsittlichkeit (Jahrg. 1910). 
[Noeren.)] 
Sittliche Ordnung. I. Nach der thei- 
stisch-christlichen Weltanschanung. 1. Be- 
griff. Unter dem sittlichen Leben des Menschen 
versteht man seine freie Selbstbetätigung, sofern 
sie in ihrer Beziehung zu dem höchsten Endzweck 
seines Daseins aufgefaßt wird. Diese wird sittlich 
gut genannt, wenn sie dem Endzweck entspricht, 
sittlich bös oder schlecht, wenn sie ihm zuwider- 
läuft. Die sittliche Ordnung ist demnach der In- 
begriff aller für den Menschen geltenden sittlichen 
Gesetze, d. h. jener Normen oder Regeln, die der 
Sittliche Ordnung. 
  
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Mensch bei seiner freien Selbstbetätigung zu be- 
obachten hat, damit sie dem höchsten Endzweck oder 
letzten Ziel seines Daseins entspreche. 
2. Die tatsächliche Existenz einer sittlichen 
Ordnung wird aufs deutlichste bezeugt erstens durch 
die sog. übernatürliche Offenbarung des Alten 
und Neuen Testaments, teils indirekt durch gött- 
liche Taten (die göttliche Gesetzgebung und Ver- 
geltung) teils ausdrücklich in Worten (vgl. 5 Mos. 
30, 11—14; Röm. 2, 14—16), und zweitens 
durch die allgemein menschliche Uberzeugung aller 
Zeiten (ogl. Kenophon, Memorab. 4, 4, 19; Ci- 
cero, De legib. 1, 6; 2, 4; De republ. 3, 22; 
De offic. 3, 6; Pro Milone 4, 10). 
3. Quelle und Norm aller Ordnung, so- 
wohl der physisch-natürlichen als der geistig-sitt- 
lichen, ist der ewige Weltplan Gottes, d. h. der 
göttliche Wille, der von der unfreien Natur voll- 
zogen werden muß und von der vernunftbegabten 
Kreatur vollzogen werden soll. Dieser ewige Wille 
Gottes (lex aeterna) als das Gesetz katexochen 
oder schlechthin ist kundgegeben in der Zeit (lex 
temporalis) zum Zweck der Erfüllung, und zwar 
in doppelter Weise, als Gesetz der natürlich-phy- 
sischen Ordnung, lex naturae, und als Gesetz der 
sittlichen Ordnung, lex moralis. Das Sitten- 
gesetz ist wiederum lex moralis naturalis, indem 
es in der Natur (Vernunft, Gewissen) des Men- 
schen als eines geistig-sittlichen Wesens niederge- 
legt ist, und lex moralis positiva, insofern es 
dem Menschen mittels übernatürlicher Offenbarung 
mitgeteilt ist. Endlich gibt Gott seinen Willen 
mittelbar zu erkennen durch das menschliche Gesetz, 
lex humana, entweder durch die kirchlich-religiöse 
(lex ecclesiastica sive canonica) oder die 
bürgerlich-weltliche Gesetzgebung (lex civilis). 
Der letzte Grund der sittlichen Ordnung ist somit 
mittelbar oder unmittelbar in dem Willen Gottes 
zu suchen, mag man den Inhalt oder die verpflich- 
tende Kraft der Sittengesetze ins Auge fassen. 
4. Do die sittliche Ordnung Ausfluß und Aus- 
druck des ewigen göttlichen Gesetzes, d. h. nicht 
des unbeschränkten Machtwillens oder der Willkür 
Gottes, sondern des durch Heiligkeit, Güte und 
Weisheit geordneten göttlichen Willens (voluntas 
Dei ordinata) ist, so ist ihre Beobachtung von seiten 
des Menschen Dienst Gottes oder ein wesentlicher 
Teil der Religion. Darum bilden Religion 
und Moral, Glaube und sittliches Leben eine le- 
bendige Einheit; jener ist die Wurzel, dieses die 
ihr entsprechende Frucht; darum ist ohne wahre 
Religion auch keine wahre Sittlichkeit denkbar und 
gibt es keine von jeder Religion unabhängige 
Moral. Aus dem gleichen Grund ist die Sünde 
ein Widerspruch gegen den persönlichen göttlichen 
Willen und darum eine Beleidigung Gottes. 
II. Aach den modernen Sittlichkeitstheo- 
rien. 1. Der Moralpositivismus. Den 
Unterschied, der nach allgemeinem Dafürhalten 
zwischen guten und bösen Handlungen besteht, 
führen nicht wenige Philosophen ausschließlich
	        
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