1139
dasselbe nicht eingedämmt. Das gilt auch von
der sog. Lokalisierung der Prostitution, d. h.
der Zurückdrängung in gewisse Straßen, einer
Maßnahme, der dieselben Bedenken entgegenstehen
wie der Kasernierung. Soll eine wirkliche Besse-
rung erfolgen, dann ist alles daranzusetzen, daß
die heranwachsende Jugend sittlich rein erhalten
bleibt. Wächst eine Generation heran, die schon
in der Jugend sittlich vergiftet ist, dann wird es
den schärfsten Mitteln der Staatsgewalt nicht ge-
lingen, später die Ausübung des Lasters zu ver-
hindern. Alle Versuche, das einmal vorhandene
Laster zu unterdrücken, werden nur geringen oder
gar keinen Erfolg haben, das einmal vorhandene
Laster wird jeden Damm durchbrechen und nach
der einen oder andern Richtung hin seine Be-
friedigung suchen und finden. Es kommt daher
alles darauf an, der heranwachsenden Jugend
einen wirksamen Schutz gegen die sittliche Ver-
gistung zu gewähren.
Die größte Gefahr für die noch unverdorbene
Jugend aber liegt in der Überflutung des Landes
mit unsittlichen Schriften und Bildern, in der
öffentlichen Ausstellung anstößiger Darstellungen
und Machwerke und in den schamlosen Theater-
und Bühnenaufführungen. Die frühzeitige Er-
regung des Geschlechtstriebs, die Uberreizung der
Sinnlichkeit führt bei noch jugendlichen Personen
fast notwendig zu sexuellen Verfehlungen, die dann
von selbst das spätere Unzuchtslaster zur Folge
haben. Hier bessernd einzugreifen, war die lex
Heinze bestimmt, deren Zustandekommen jedoch
an der Obstruktion des Reichstags im Jahr 1900
gescheitert ist.
Literatur: Streitfragen. Wissenschaftliches
Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine, Jahrg.
1892,. Hft 6, u. Jahrg. 1893, Hft 1 u. 2; Schmöl-
der, Die Bestrafung u. polizeiliche Behandlung der
gewerbsmäßigen Unzucht (1892); Stursberg, Die
Prostitution u. ihre Bekämpfung (1887); Com-
menge, La prostitution clandestine à Paris (Par.
1897); Moeller, Réglementation de la prostitution,
im Bulletin de I’Academie royale de médic. de
Belgique XX (1886); Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften von Conrad usw., Art.,Prostitution“;
v. Stengel, Wörterbuch, Bd lI: S.; Roeren, Sitt-
lichkeitsgesetzgebung der Kulturstaaten (1907; Koe-
selsche Sammlung Nr 14, S. 87 f); Volkswart,
Monatsschrift des Verbands der Vereine zur Be-
kämpfung der öffentl. Unsittlichkeit (Jahrg. 1910).
[Noeren.)]
Sittliche Ordnung. I. Nach der thei-
stisch-christlichen Weltanschanung. 1. Be-
griff. Unter dem sittlichen Leben des Menschen
versteht man seine freie Selbstbetätigung, sofern
sie in ihrer Beziehung zu dem höchsten Endzweck
seines Daseins aufgefaßt wird. Diese wird sittlich
gut genannt, wenn sie dem Endzweck entspricht,
sittlich bös oder schlecht, wenn sie ihm zuwider-
läuft. Die sittliche Ordnung ist demnach der In-
begriff aller für den Menschen geltenden sittlichen
Gesetze, d. h. jener Normen oder Regeln, die der
Sittliche Ordnung.
1140
Mensch bei seiner freien Selbstbetätigung zu be-
obachten hat, damit sie dem höchsten Endzweck oder
letzten Ziel seines Daseins entspreche.
2. Die tatsächliche Existenz einer sittlichen
Ordnung wird aufs deutlichste bezeugt erstens durch
die sog. übernatürliche Offenbarung des Alten
und Neuen Testaments, teils indirekt durch gött-
liche Taten (die göttliche Gesetzgebung und Ver-
geltung) teils ausdrücklich in Worten (vgl. 5 Mos.
30, 11—14; Röm. 2, 14—16), und zweitens
durch die allgemein menschliche Uberzeugung aller
Zeiten (ogl. Kenophon, Memorab. 4, 4, 19; Ci-
cero, De legib. 1, 6; 2, 4; De republ. 3, 22;
De offic. 3, 6; Pro Milone 4, 10).
3. Quelle und Norm aller Ordnung, so-
wohl der physisch-natürlichen als der geistig-sitt-
lichen, ist der ewige Weltplan Gottes, d. h. der
göttliche Wille, der von der unfreien Natur voll-
zogen werden muß und von der vernunftbegabten
Kreatur vollzogen werden soll. Dieser ewige Wille
Gottes (lex aeterna) als das Gesetz katexochen
oder schlechthin ist kundgegeben in der Zeit (lex
temporalis) zum Zweck der Erfüllung, und zwar
in doppelter Weise, als Gesetz der natürlich-phy-
sischen Ordnung, lex naturae, und als Gesetz der
sittlichen Ordnung, lex moralis. Das Sitten-
gesetz ist wiederum lex moralis naturalis, indem
es in der Natur (Vernunft, Gewissen) des Men-
schen als eines geistig-sittlichen Wesens niederge-
legt ist, und lex moralis positiva, insofern es
dem Menschen mittels übernatürlicher Offenbarung
mitgeteilt ist. Endlich gibt Gott seinen Willen
mittelbar zu erkennen durch das menschliche Gesetz,
lex humana, entweder durch die kirchlich-religiöse
(lex ecclesiastica sive canonica) oder die
bürgerlich-weltliche Gesetzgebung (lex civilis).
Der letzte Grund der sittlichen Ordnung ist somit
mittelbar oder unmittelbar in dem Willen Gottes
zu suchen, mag man den Inhalt oder die verpflich-
tende Kraft der Sittengesetze ins Auge fassen.
4. Do die sittliche Ordnung Ausfluß und Aus-
druck des ewigen göttlichen Gesetzes, d. h. nicht
des unbeschränkten Machtwillens oder der Willkür
Gottes, sondern des durch Heiligkeit, Güte und
Weisheit geordneten göttlichen Willens (voluntas
Dei ordinata) ist, so ist ihre Beobachtung von seiten
des Menschen Dienst Gottes oder ein wesentlicher
Teil der Religion. Darum bilden Religion
und Moral, Glaube und sittliches Leben eine le-
bendige Einheit; jener ist die Wurzel, dieses die
ihr entsprechende Frucht; darum ist ohne wahre
Religion auch keine wahre Sittlichkeit denkbar und
gibt es keine von jeder Religion unabhängige
Moral. Aus dem gleichen Grund ist die Sünde
ein Widerspruch gegen den persönlichen göttlichen
Willen und darum eine Beleidigung Gottes.
II. Aach den modernen Sittlichkeitstheo-
rien. 1. Der Moralpositivismus. Den
Unterschied, der nach allgemeinem Dafürhalten
zwischen guten und bösen Handlungen besteht,
führen nicht wenige Philosophen ausschließlich