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dern zu schaden, sei eine sittlich gute Tat. Nach
Herbert Spencer (1820/1903), der die mate-
rialistische Evolutionstheorie auch auf die Ethik an-
wendet, sind nur jene Handlungen einfachhin gut,
welche Lust ohne jede Beimischung von Schmerz
erzeugen. In dem gegenwärtigen Stadium der
menschlichen Entwicklung sind solche Handlungen
wegen der unvermeidlichen Kollisionen des Privat-
wohls mit dem Gemeinwohl nicht möglich, und
darum gibt es für den Menschen keine absolut
gute, sondern nur relativ gute Handlungen. Die
Anpassung der einzelnen Menschen an das Ge-
samtwohl ist eben noch sehr unvollkommen. Auf
diesem niedrigen oder egoistischen Standpunkt wird
indessen die Menschheit nicht stehen bleiben. Mit
dem Fortschritt der Entwicklung werden die
zwischen Privatwohl und Gemeinwohl bestehen-
den Differenzen immer mehr ausgeglichen, die
einzelnen werden sich den sozialen Verhältnissen
allmählich anpassen, d. h. sie werden immer größere
Lust darin finden, der Gesamtheit zu dienen, bis
sie zuletzt mit vollständiger Hintansetzung ihrer
Privatinteressen ihre einzige Freude in der För-
derung des allgemeinen Wohls finden und das
Streben nach dem Gesamtwohl das einzige Motiv
aller ihrer Handlungen ist. So wird also der Ent-
wicklungsprozeß allmählich die Aussöhnung zwi-
schen Egoismus und Altruismus (s. unten) oder
Sozialeudämonismus zustande bringen, und
zwar durch die Sympathie oder genauer die
Mitfreude, andern wohlzutun. Nach Vollendung
der sozialen Anpassung wird jeder gerade dadurch,
daß er seine augenblickliche Lust befriedigt, bestän-
dig das allgemeine Wohl fördern.
Während die zuerst genannten Eudämonisten
das persönlich-individuelle oder eigne Wohlergehen
mit Überordnung über das allgemeine Wohl als
Sittennorm aufstellen und deshalb Privat-
eudämonisten heißen, sehen die Sozial-
eudämonisten die Sittennorm im Gesamt-
wohl und berücksichtigen das individuelle Wohl
nur insofern, als es die Grundlage des Gesamt-
wohls bildet. Spencer hat, wie wir soeben sahen,
den (allerdings mißglückten) Versuch gemacht, sich
auf letzteren Standpunkt zu erheben. Der früheste
Vertreter des Sozialutilitarismus ist wohl R.
Cumberland (1632/1718), der „das Wohl-
ergehen gegen alle vernünftigen Wesen“ für die
oberste Norm des Sittlichen hält. Keine Hand-
lung kann daher als sittlich gut bezeichnet werden,
die nicht ihrer Natur nach irgendwie zum Glück
der Menschen beiträgt. An Cumberland reiht sich
Sam. Pufendorf, der zwar den göttlichen
Willen für den letzten Grund des Unterschieds
zwischen gut und bös hält (s. oben Sp. 1143),
aber meint, Gott habe nun einmal das allgemeine
Gesetz der Geselligkeit in die menschliche Natur ge-
legt, so daß infolge dieser Anordnung jetzt alle
Handlungen gut oder schlecht seien, je nachdem sie
mit diesem Gesetz übereinstimmen oder nicht. Unter
Geselligkeit sei „die Veranlagung und Reigung
Sittliche Ordnung.
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des Menschen zur Vereinigung mit andern Men-
schen in Wohlwollen, Frieden, Liebe und gegen-
seitiger Verpflichtung“ zu verstehen. Eingehend
hat den Sozialeudämonismus der englische Mo-
ralphilosoph Graf Shaftesbury (1671/1713)
aus der menschlichen Natur zu entwickeln versucht.
Nach seiner Theorie gibt es dreierlei Neigungen
im Menschen: gesellige oder sympathische (Gemein-
wohl), selbstische oder idiopathische (Privatwohl)
und unnatürliche, die den beiden ersten entgegen-
treten und deshalb unnatürliche heißen. Die un-
natürlichen Neigungen sind immer sittlich schlecht,
die geselligen immer gut, die selbstischen dagegen
gut oder bös, je nachdem sie den geselligen wider-
sprechen oder nicht. Um sittlich gut zu leben, müssen
also die unnatürlichen Neigungen bekämpft, die
selbstischen mit den geselligen in Einklang gebracht
werden. Diese Harmonie bildet die sittliche Tu-
gend. In der Herstellung derselben leitet uns als
subjeklives Erkenntnisprinzip der „moralische
Sinn“, eine Art sittlicher Instinkt; Beweggrund
aber ist die Vortrefflichkeit der Tugend selbst, nicht
ihre Nützlichkeit. Doch stellt sich das Glück von
selbst als natürliche Folge der Tugend ein. Ein
großer Teil der Lebensfreude entspringt aus der
Sympathie, d. h. der Teilnahme an fremder Freude,
und aus dem Bewußtsein, andern Gutes erwiesen
zu haben.
Im 19. Jahrh. hat August Comte (1798
bis 1857) zuerst das Moralprinzip der allgemeinen
Wohlfahrt der Menschen verkündet. Nach dem von
ihm aufgestellten obersten Grundsotz: Vivre pour
autrui, wird der Sozialeudämonismus auch Alt-
ruismus genannt. Sein Moralprinzip verlangt,
daß man sich ganz dem Dienst der Menschheit, der
allgemeinen Menschenliebe, weihen und so dem
Altruismus den Sieg über den Egoismus ver-
schaffen solle. Indem die Moral von den Indivi-
duen das Opfer ihrer selbst an die Menschheit
fordere, werde sie zur Religion. Von Comte be-
einflußt, hat John Stuart Mill (1806/73)
durch seine Abhandlung On Utilitarianism (1862,
121895) dem Prinzip der allgemeinen Wohlfahrt
in England und Deutschland viele Anhänger ge-
wonnen. Er betont nachdrücklich, daß nicht das
eigne Glück des Handelnden, sondern das „größt-
mögliche Glück der größtmöglichen Zahl“ der
Maßstab des Sittlichen sei. Die hauptsächlichsten
Vertreter des Sozialeudämonismus in Deutsch-
land sind G. Th. Fechner (180 1/87), H. Lotze
(1817/81), Ernst Laas (1837/85) und Friedrich
Paulsen (1846/1908). Auch Arthur Schopen-
hauer (1788/1860) ist Sozialeudämonist, in-
sofern ein Pessimist es sein kann, der sowohl für
den einzelnen Menschen als auch für die mensch-
liche Gesellschaft jedes positive Glück in Abrede
stellt. Das ganze Glück des Menschen und der
Menschheit besteht nach Schopenhauer in der
Abwesenheit von Schmerz und Elend. Des-
halb nennt er jene Handlungen gut, durch die
der Mensch ohne jede Beimischung egoistischer