Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Motive das Elend seiner Mitmenschen zu lindern 
ucht. 
Die beiden Theorien, der Privat= und Sozial- 
endämonismus, sind unhaltbar, denn weder 
das eigne Wohlergehen (das Privatwohl) noch die 
allgemeine Wohlfahrt (das Gesamtwohl) können 
Norm der Sittlichkeit sein. 
a) Der Privateudämonismus beruht 
erstens auf der falschen Voraussetzung, daß der ein- 
zelne Mensch in keiner wesentlichen Abhängigkeit 
von Gott stehe, sondern absoluter Selbstzweck sei, 
und daß des Menschen höchster Zweck während 
seines zeitlichen Lebens im größtmöglichen Genuß 
der irdischen Güter bestehe. Diese zwei Grundsätze, 
die die notwendige Grundlage jeder Art von 
Privatutilitarismus bilden, sind unrichtig, weil 
einmal der Mensch nicht Selbstzweck ist, sondern 
die Bestimmung hat, Gott, seinen Schöpfer, durch 
Beobachtung des Sittengesetzes zu verherrlichen. 
Sodann ist des Menschen höchster Zweck im gegen- 
wärtigen Leben kein anderer als die Vorbereitung 
seiner zukünftigen Glückseligkeit im Jenseits. Diese 
Vorbereitung kann aber unmöglich darin bestehen, 
daß er in den Freuden und Genüssen des gegen- 
wärtigen Lebens vollständig aufgehe, so daß ihm 
keine Zeit übrig bleibt, sich um das zukünftige 
Leben im Jenseits zu bekümmern. Zweitens ist der 
Privateudämonismus in seinen Konsequenzen ver- 
werflich, denn er macht die Sittenlehre zu einer 
rein subjektiven, zufälligen, nach der Verschieden- 
heit der Personen und Umständen wechselnden 
Angelegenheit. Das gesellschaftliche Leben fordert 
sodann von den Individuen mancherlei Opfer, da 
die Einzelinteressen sehr oft mit den Interessen der 
Gesamtheit erfahrungsgemäß im Widerspruch 
stehen. Wäre also das Privatinteresse der höchste 
Zweck des Menschen und die Norm seiner Sitt- 
lichkeit, dann müßte man die für das gesellschaft- 
liche Leben notwendige Unterordnung des Privat- 
interesses unter das Gemeinwohl als sittlich schlecht 
verurteilen, und jeder wäre als Mensch verpflichtet, 
unbekümmert um das Wohl und Wehe seiner Mit- 
menschen nur sich selbst und seinen persönlichen 
Interessen zu leben. Was würde dann aus der 
menschlichen Gesellschaft, aus Familie und Staat 
werden? Ja, wenn das Privatwohl die höchste 
Norm der Sittlichkeit wäre, wären alle Mittel, 
die es fördern, also auch Meineid, Mord oder Ver- 
rat, sittlich, und der Mensch wäre sittlich um so 
besser, je mehr er durch alle ihm zu Gebote stehen- 
den Mittel sein eignes Wohl oder Interesse zu 
fördern suchte. Kurz die Moral des Privatinter- 
esses nimmt dem menschlichen Leben allen Wert 
und jede Würde. 
b) Der Sozialeudämonismus hadeinen 
Kern von Wahrheit. Wenn man nänmlich sagt, 
eine Handlung sei nur dann sittlich gut, wenn sie 
das Gesamtwohl der Menschheit fördere, so ist 
das richtig, vorausgesetzt, daß die Handlung mit 
der wahren Sittenordnung übereinstimmt und daß 
man unter Gesamtwohl das wahre Wohl der 
Sittliche Ordnung. 
  
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menschlichen Gesellschaft versteht. Der richtig ver- 
standenen irdischen Wohlfahrt kann eine wahrhaft 
gute Handlung nur förderlich sein. Allein die 
Sozialeudämonisten verstehen unter Gesamtwohl 
das irdische Wohl mit Ausschluß jeder Beziehung 
zum jenseitigen Leben und stellen überdies die so 
verstandene irdische Wohlfahrt als höchste Norm 
der Sittlichkeit auf. Das widerstreitet aber sicher 
erkannten Wahrheiten und führt zu Konsequenzen, 
die mit der allgemeinen Überzeugung der Menschen 
unvereinbar sind. Erstens setzt der Sozialutili= 
tarismus, wenigstens stillschweigend, den Irrtum 
voraus, das Menschengeschlecht sei sich absoluter 
Selbstzweck. Da aber tatsächlich Gott wie der 
Schöpfer so auch das Endziel aller Dinge ist, so 
kann die zeitliche Wohlfahrt der Menschheit oder 
die gesellschaftliche Nützlichkeit nicht der einzige 
Maßstab des Sittlichen sein. Etwas anderes ist 
es, zu sagen: diese Handlung ist sittlich gut und 
dient der allgemeinen Wohlfahrt, und: diese Hand- 
lung ist sittlich gut, weil sie die allgemeine Wohl- 
fahrt fördert. Zweitens hat der Mensch die Pflicht, 
Gott, seinen Schöpfer und sein Endziel, zu lieben 
und zu verehren, gleichviel ob dadurch das irdische 
Wohl der Menschen gefördert wird oder nicht. Ist 
aber die Liebe und Verehrung Gottes eine Pflicht 
des Menschen, so ist sie für ihn auch eine sittlich 
gute Handlung. Folglich gibt es Handlungen, die 
unabhängig von der gesellschaftlichen Nützlich- 
keit sittlich gut sind; also ist die allgemeine Wohl- 
fahrt nicht die einzige und höchste Norm der 
Sittlichkeit. Drittens ist der Begriff der allge- 
meinen Wohlfahrt überhaupt zu unbestimmt und 
zu vag; er bedarf selbst eines höheren sittlichen 
Maßstabs, kann also nicht die oberste Richtschnur 
des Sittlichen sein. Die Wohlfahrt kann eine 
wahre und falsche, eine sittlich gute und schlechte 
sein. Tatsächlich finden sich auch unter den ein- 
zelnen Völkern, selbst unter den Kulturvölkern, 
ganz verschiedene Begriffe von der allgemeinen 
Wohlfahrt. Welches ist also die Wohlfahrt, die 
uns als Ziel beim sittlich guten Handeln vor- 
schweben soll! Wenn Paul v. Giöycki „die all- 
gemeine Wohlfahrt, d.i. das größtmögliche wahre 
Glück aller“, als die Richtschnur der Moral be- 
zeichnet, so gibt er mit diesem Zusatz bzw. Grund- 
satz den eudämonistischen Standpunkt auf. Denn 
wer von wahrer Glückseligkeit redet, erkennt da- 
durch an, daß es eine falsche gibt, daß man somit 
eines über der Glückseligkeit stehenden Maßstabs 
bedarf. Endlich führt der Sozialeudämonismus 
zu falschen Konsequenzen, indem er den einzelnen 
Menschen zum bloßen Mittel für die Gesamtheit 
herabwürdigt. Ist nämlich die Förderung des 
Gemeinwohls höchster Zweck des einzelnen Men- 
schen und Norm der Sittlichkeit, so haben alle 
jene Menschen, die diesen Zweck nicht erfüllen 
können, kein Recht auf Existenz, und es wäre 
eine sittlich gute Tat, alle schwächlichen, kranken, 
siechen oder altersschwachen Individuen, die für 
die Gesellschaft nicht bloß wertlos, sondern sogar
	        
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