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und zwar haben nicht nur die Untersuchungen rein
weltlicher Philosophen, wie im besondern der
Aristoteles, Spinoza, Shaftesbury, Hume, Kant,
sondern auch die Meditationen hervorragender
Theologen, welche die Wissenschaft der Moral be-
arbeitet haben, zu diesem Ergebnis geführt“
(Grundzüge der Moral [1888] 2. Moralphilo-
sophie [18887). Und Alfred Fouillée (geb.
1838), einer der meistgenannten Philosophen der
Gegenwart in Frankreich, meint: „In Wirklich-
keit ist die Unabhängigkeit der Moral von der
Religion ein Punkt, in dem fast alle Philosophen,
die dieses Namens würdig sind, übereinkommen:
Positivisten, Kritizisten, Spiritualisten und Ma-
terialisten“ (Critique des systemes de morale
contemporaine (Par. 1883, 62; 18931). Jean
Marie Guyau nennt sein Hauptwerk über
Ethil geradezu: Esquisse d’une morale sans
obligation ni sanction (Par. 1885, (1890;
ins Deutsche übersetzt von Elisabeth Schwarz unter
dem Titel: Sittlichkeit ohne „Pflicht“, 1909).
In Dmutschland darf J. Kant als der erste
Führer und Bahnbrecher der sog. unabhängigen
Moral gelten. Zwar hat er das Dasein Gottes
nicht geleugnet, sondern vielmehr Gott und Un-
sterblichkeit als notwendige Postulate der sittlichen
Ordnung bezeichnet; aber die Sittengebote sind
nach ihm nicht als Gebote Gottes aufzufassen,
sondern als Vorschriften der autonomen praktischen
Vernunft. Der Sittlichkeit ist die Autonomie
wesentlich; Heteronomie, d. h. die Unterwerfung
unter ein fremdes Gebot, auch unter das Gebot
Gottes, widerspricht ihr. Außerdem ist der Mensch
nicht auf Gott als sein letztes Ziel hingeordnet,
sondern Selbstzweck. Damit ist die sittliche Ord-
nung in allen wesentlichen Teilen von Gott und
Religion losgelöst und zu einer rein persönlichen
Angelegenheit des autonomen Menschen gemacht.
Bei dem großen Einfluß, den Kant auf die gei-
stige Entwicklung Deutschlands gehabt hat, ließ
die vollständige Lostrennung der Moral von der
Religion nicht lange auf sich warten. Tatsächlich
sind alle in Deutschland seit einem Jahrhundert
aufgestellten Moralsysteme mit wenigen Aus-
nahmen nur Variationen oder weitere Ausfüh-
rungen der Kantschen Lehre von der sittlichen
Autonomie, die jede Unterwerfung unter Gottes
Gebot als Heteronomie und damit als unsittlich
verwirft.
b) Unter den Bestrebungen, der unab-
hängigen Moral in weiteren Volkskreisen Ein-
gang zu verschaffen, steht obenan die „ethische
Bewegung“ (ethical movement). Ihre Hei-
mat sind die Vereinigten Staaten von Amerika.
Im Jahr 1876 gründete der aus Deutschland
eingewanderte Felix Adler, Professor an der
Cornell-Universität in Neuyork, eine „Gesell-
schaft für ethische Kultur“". Durch ihn
veranlaßt entstanden ähnliche Gesellschaften bald
in andern Städten (Philadelphia, Chicago u. a.),
die sich im Jahr 1887 zu dem „Verband der
Sittliche Ordnung.
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Gesellschaften für ethische Kultur“ (Union of the
Societies for Ethical Culture) zusammen-
schlossen. Neben Adler (Der Moralunterricht der
Kinder, deutsch herausgegeben von G. v. Gizycki,
1894) waren von Anfang an William Macken-
tire Salter (Die Religion der Moral, deutsch von
G. v. Gizycki, 1885) und Stanton Coit (Die
ethische Bewegung in der Religion, deutsch von
G. v. Gizycki, 1890) in Wort und Schrift Haupt-
förderer und Leiter der ethischen Bewegung. Zweck
der ethischen Gesellschaften ist „Veredlung des
moralischen Lebens der Mitglieder der Gesell-
schaften und der Gemeinwesen, denen sie ange-
hören“, und zwar „ohne Rücksicht auf theologische
und philosophische Ansichten“. Für die Moral
komme es nur auf das Rechttun an. Jeder müsse
das Rechte aus den Beweggründen tun, die er für
recht halte. Dementsprechend wird als Gegen-
stand des moralischen Unterrichts bezeichnet der
„Inbegriff der von allen guten Menschen ange-
nommenen moralischen Wahrheiten“, die Sitten-
lehre, in der alle guten Männer und Frauen
übereinstimmen. Im Jahr 1893 haben sich die
Gesellschafter für ethische Kultur in Neuyork,
Chicago, Philadelphia und St Louis zu einem
„Amerikanischen ethischen Bund“ (The
American Ethical Union) zusammengeschlossen.
Während die ethischen Gesellschaften die Moral
von der Religion im gewöhnlichen oder herge-
brachten Sinn unabhängig machen wollen, er-
heben sie anderseits die sittliche Ordnung selbst
zum Gegenstand der religiösen Verehrung. „Moral
ist Religion“, sagt z. B. Salter. Ganz in Über-
einstimmung mit dieser Erhebung der Moral zur
Religion reden die Anhänger der ethischen Be-
wegung in den erhabensten Ausdrücken von der
sittlichen Ordnung. Nach Adler und Salter ist
der sittliche Gesetzgeber nicht außer uns zu suchen,
sondern in uns. „Das Soll in seiner Ehrfurcht
gebietenden Majestät“ ist der tiefste Grund des
Sittengesetzes. „Das alte Ideal betont das Ewige,
das außer uns ist; das neue das Ewige, das in
uns ist.“ Die ethischen Gesellschaften seien auf
„den Felsen des Gewissens“, auf „die ewigen
Gesetze, die sich in der moralischen Natur des
Menschen kundgeben“, gegründet. Wir sollen das
„Heilig-Menschliche" in uns verehren und pflegen.
Deshalb nennt sich die neue Richtung nicht selten
einfachhin: „Die Religion des Rechttuns".
Über England und Frankreich, wo seit 1882
an die Stelle des Religionsunterrichts ein bloßer
Moralunterricht getreten ist, der durch einen
bürgerlichen Unterricht (instruction civique) er-
gänzt wird, hat die ethische Bewegung im Jahr
1892 ihren Einzug in Deutschland gehalten. Am
18. Okt. dieses Jahrs wurde hauptsächlich unter
der Initiative der Professoren G. v. Gizycki
(1 1896) und Wilh. Julius Förster (geb. 1832)
in Berlin die „Deutsche Gesellschaft für
ethische Kultur“ gegründet, die sich inzwischen
über ganz Deutschland, Osterreich und die Schweiz
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