Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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ausgebreitet und zum „Ethischen Bund“ 
erweitert hat. 
e) Daß die Gesellschaft ohne sittliche 
Ordnung, ohne Moral nicht bestehen 
kann, wird allgemein zugegeben. Denn ein ge- 
ordnetes und sicheres Zusammenleben ist unmög- 
lich, wenn keine Achtung vor der rechtmäßigen 
Obrigkeit und ihren Gesetzen herrscht, wenn die 
Glieder der Gesellschaft nicht gegenseitig ihre Rechte 
in Bezug auf das Leben, die Ehre und das Eigen- 
tum respektieren, wenn nicht Glaube und Treue, 
Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Liebe im gegen- 
seitigen Verkehr walten. Ist aber eine sitt- 
liche Ordnung ohne Religion noch 
möglich? Steht die Religion, wie die moderne 
Ethik behauptet, mit der Moral in keinem innern 
und wesentlichen Zusammenhang? Liegt sie außer- 
halb der ganzen sittlichen Ordnung? Oder kann 
man tatsächlich ein ehrenhaftes, sittlich gutes Leben 
führen, ohne sich um die Religion zu bekümmern? 
Daß die Trennung von Moral und Religion den 
menschlichen Leidenschaften erwünscht sein kann, ja 
vielfach erwünscht ist, läßt sich nach der historischen 
und psychologischen Erfahrung leicht begreifen. 
Aber wissenschaftlich läßt sich die un- 
abhängige Moral nichtrechtfertigen. 
Denn wenn man erstens unter Religion die 
Summe der Pflichten der Gottesver- 
ehrung (die subjektive Religion) versteht, so ist 
sie ein Teil der Moral, d. h. ein Teil aller sitt- 
lichen Pflichten des Menschen, die entweder Pflich- 
ten gegen sich selbst, gegen Gott oder die Mit- 
menschen sind. Die Pflichten gegen Gott sind aber 
eben das, was man religiöse Pflichten zu 
nennen pflegt. Sie machen einen wesentlichen, ja 
richtig verstanden den vorzüglichsten Teil der sitt- 
lichen Pflichten aus. In praxi kann also niemand 
wahrhaft und allseitig gut oder tugendhaft sein, 
wenn er seine religiösen Pflichten vernachlässigt. 
Versteht man aber zweitens unter Religion die 
Summe der Wahrheiten, die sich auf das 
Verhalten zu Gott beziehen (die objektive Reli- 
gion), so ist die Religion nicht bloß ein Teil, son- 
dern zugleich die unentbehrliche Grundlage der 
sittlichen Ordnung, d. h. der die sittliche Ordnung 
ausmachenden Wahrheiten. Grundlage ist sie vor 
allem deshalb, weil eine wahre Verpflichtung zur 
Beobachtung des Sittengesetzes und eine aus- 
reichende Sanktion desselben ohne Gott nicht 
möglich ist. Denn die äußere Gewalt als solche 
bewirkt keine Verpflichtung und kann sie auch nicht 
ersetzen. Die reine Liebe zum Guten und die Be- 
geisterung für sittliche Ideale, die an die Stelle 
der Verpflichtung treten sollen, bieten keinen wirk- 
samen Beweggrund, die Menschen zur Beebach- 
tung des Sittengesetzes, die oft mit schweren Opfern 
verbunden ist, dauernd anzuhalten. 
Das lehrt auch die offenkundige Erfahrung nur 
zu deutlich. „Die autonome Moral, mag sie sich 
noch so prahlerisch gebärden, zeigt in der Wirk- 
lichkeit, wo mit ihr praktische Versuche gemacht 
Sittlichkeit usw. 
  
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werden, überall (wie in Frankreich) dasselbe Er- 
gebnis der Untergrabung bzw. Auflösung der 
Sittlichkeit. Sittliches Handeln wird eben wurzel- 
los, wenn es nicht in einer sittlichen Weltan- 
schauung begründet ist, und ziellos, wenn es nicht 
in Beziehung gesetzt ist zur menschlichen Bestim- 
mung. Die Selbsttätigkeit des sittlichen Handelns 
wird einzig in Bewegung gesetzt durch ein aus- 
reichendes Motiv, und ein solches liegt einzig in 
einer das Subjekt bestimmenden Notwendigkeit, 
dieses allein in der Abhängigkeit von Gott. Ist 
dagegen der Mensch auf sich selbst gestellt, so ist 
kein Grund zu entdecken, wie etwas anderes als 
der individuelle Egoismus das bestimmende Mo- 
tiv des Handelns ergeben könnte"“ (Ludwig Lemme, 
Christliche Ethik 1 [1905) 163 f). „Ubrigens"“, 
so bemerkt derselbe Autor mit vollem Recht, „lebt 
die religionslose Moral hinsichtlich der moralischen 
Gesinnung, die sie zu vertreten vorgibt, wie 
der Morallehre, die sie vertritt, nur von dem 
Christentum, das sie bestreitet. Genau so wie 
die sog. „natürliche Religion“ der Aufklärung ein 
Reflex christlicher Weltanschauung, ist die angeb- 
lich rein natürliche autonome Moral eine Aus- 
wirkung der durch die Kirche vollzogenen Durch- 
tränkung der Massen mit christlichem Geist: 
Schmarotzer am Baum der Christenheit“ (ebd. 
165). Endlich sei bemerkt, daß das Christentum 
keineswegs, wie ihm so oft zum Vorwurf gemacht 
wird, die einseitige Heteronomie verkündet. Es ist 
vielmehr Synthese von Autonomismus 
und Heteronomismus. Die theistisch-christ- 
liche Weltanschauung lehrt, daß Gott der Gesetz- 
geber aller Kreatur ist. Aber Gottes Wille ist in 
seiner Weisheit, Güte und Heiligkeit begründet, 
also nicht launenhafte Willkür. Da nun die mensch- 
liche Vernunft ein Abglanz der göttlichen ist, so 
stimmen ihre Gesetze mit den göttlichen überein. 
Nach christlicher Anschauung dient also der Mensch 
Gott, indem er seiner Vernunft oder Überzeugung, 
d. h. dem „in sein Herz geschriebenen“ oder natür- 
lichen Sittengesetz gehorcht. Seine Sittlichkeit ist 
somit autonom und heteronom zugleich. 
Literatur. F. J. Stein, Historisch-kritische Dar- 
stellung der patholog. Moralprinzipien (21879); 
C. Gutberlet, Ethik u. Religion (1892); V. Cathrein, 
Moralphisosophie (71904); Religion u. Moral 
(21904); Th. Meyer, Institutioncs iuris naturalis 
1 (21906); W. Schneider, Göttliche Weltordnung 
u. religionslose Sittlichkeit (21909); Ph. Kneib, 
Die „Heteronomie “ der christlichen Moral (1903); 
K. Ch. Scherer, Religion u. Ethos (1908); M. 
Cronin, The Science of Ethics 1 (Lond. 1909); 
M. Künzle, Ethik u. Asthetik (1910). 
Anton Koch.)] 
Sittlichkeit, Verbrechen und Ver- 
gehen gegen die. Das staatliche Recht, Ver- 
letzungen der Sittlichkeit zu ahnden, findet seine 
innere Berechtigung in der Pflicht des Staats, 
zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung seine 
Angehörigen gegen Verletzungen ihres Sittlich- 
keitsgefühls zu schützen. Daraus ergibt sich von
	        
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