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ausgebreitet und zum „Ethischen Bund“
erweitert hat.
e) Daß die Gesellschaft ohne sittliche
Ordnung, ohne Moral nicht bestehen
kann, wird allgemein zugegeben. Denn ein ge-
ordnetes und sicheres Zusammenleben ist unmög-
lich, wenn keine Achtung vor der rechtmäßigen
Obrigkeit und ihren Gesetzen herrscht, wenn die
Glieder der Gesellschaft nicht gegenseitig ihre Rechte
in Bezug auf das Leben, die Ehre und das Eigen-
tum respektieren, wenn nicht Glaube und Treue,
Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Liebe im gegen-
seitigen Verkehr walten. Ist aber eine sitt-
liche Ordnung ohne Religion noch
möglich? Steht die Religion, wie die moderne
Ethik behauptet, mit der Moral in keinem innern
und wesentlichen Zusammenhang? Liegt sie außer-
halb der ganzen sittlichen Ordnung? Oder kann
man tatsächlich ein ehrenhaftes, sittlich gutes Leben
führen, ohne sich um die Religion zu bekümmern?
Daß die Trennung von Moral und Religion den
menschlichen Leidenschaften erwünscht sein kann, ja
vielfach erwünscht ist, läßt sich nach der historischen
und psychologischen Erfahrung leicht begreifen.
Aber wissenschaftlich läßt sich die un-
abhängige Moral nichtrechtfertigen.
Denn wenn man erstens unter Religion die
Summe der Pflichten der Gottesver-
ehrung (die subjektive Religion) versteht, so ist
sie ein Teil der Moral, d. h. ein Teil aller sitt-
lichen Pflichten des Menschen, die entweder Pflich-
ten gegen sich selbst, gegen Gott oder die Mit-
menschen sind. Die Pflichten gegen Gott sind aber
eben das, was man religiöse Pflichten zu
nennen pflegt. Sie machen einen wesentlichen, ja
richtig verstanden den vorzüglichsten Teil der sitt-
lichen Pflichten aus. In praxi kann also niemand
wahrhaft und allseitig gut oder tugendhaft sein,
wenn er seine religiösen Pflichten vernachlässigt.
Versteht man aber zweitens unter Religion die
Summe der Wahrheiten, die sich auf das
Verhalten zu Gott beziehen (die objektive Reli-
gion), so ist die Religion nicht bloß ein Teil, son-
dern zugleich die unentbehrliche Grundlage der
sittlichen Ordnung, d. h. der die sittliche Ordnung
ausmachenden Wahrheiten. Grundlage ist sie vor
allem deshalb, weil eine wahre Verpflichtung zur
Beobachtung des Sittengesetzes und eine aus-
reichende Sanktion desselben ohne Gott nicht
möglich ist. Denn die äußere Gewalt als solche
bewirkt keine Verpflichtung und kann sie auch nicht
ersetzen. Die reine Liebe zum Guten und die Be-
geisterung für sittliche Ideale, die an die Stelle
der Verpflichtung treten sollen, bieten keinen wirk-
samen Beweggrund, die Menschen zur Beebach-
tung des Sittengesetzes, die oft mit schweren Opfern
verbunden ist, dauernd anzuhalten.
Das lehrt auch die offenkundige Erfahrung nur
zu deutlich. „Die autonome Moral, mag sie sich
noch so prahlerisch gebärden, zeigt in der Wirk-
lichkeit, wo mit ihr praktische Versuche gemacht
Sittlichkeit usw.
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werden, überall (wie in Frankreich) dasselbe Er-
gebnis der Untergrabung bzw. Auflösung der
Sittlichkeit. Sittliches Handeln wird eben wurzel-
los, wenn es nicht in einer sittlichen Weltan-
schauung begründet ist, und ziellos, wenn es nicht
in Beziehung gesetzt ist zur menschlichen Bestim-
mung. Die Selbsttätigkeit des sittlichen Handelns
wird einzig in Bewegung gesetzt durch ein aus-
reichendes Motiv, und ein solches liegt einzig in
einer das Subjekt bestimmenden Notwendigkeit,
dieses allein in der Abhängigkeit von Gott. Ist
dagegen der Mensch auf sich selbst gestellt, so ist
kein Grund zu entdecken, wie etwas anderes als
der individuelle Egoismus das bestimmende Mo-
tiv des Handelns ergeben könnte"“ (Ludwig Lemme,
Christliche Ethik 1 [1905) 163 f). „Ubrigens"“,
so bemerkt derselbe Autor mit vollem Recht, „lebt
die religionslose Moral hinsichtlich der moralischen
Gesinnung, die sie zu vertreten vorgibt, wie
der Morallehre, die sie vertritt, nur von dem
Christentum, das sie bestreitet. Genau so wie
die sog. „natürliche Religion“ der Aufklärung ein
Reflex christlicher Weltanschauung, ist die angeb-
lich rein natürliche autonome Moral eine Aus-
wirkung der durch die Kirche vollzogenen Durch-
tränkung der Massen mit christlichem Geist:
Schmarotzer am Baum der Christenheit“ (ebd.
165). Endlich sei bemerkt, daß das Christentum
keineswegs, wie ihm so oft zum Vorwurf gemacht
wird, die einseitige Heteronomie verkündet. Es ist
vielmehr Synthese von Autonomismus
und Heteronomismus. Die theistisch-christ-
liche Weltanschauung lehrt, daß Gott der Gesetz-
geber aller Kreatur ist. Aber Gottes Wille ist in
seiner Weisheit, Güte und Heiligkeit begründet,
also nicht launenhafte Willkür. Da nun die mensch-
liche Vernunft ein Abglanz der göttlichen ist, so
stimmen ihre Gesetze mit den göttlichen überein.
Nach christlicher Anschauung dient also der Mensch
Gott, indem er seiner Vernunft oder Überzeugung,
d. h. dem „in sein Herz geschriebenen“ oder natür-
lichen Sittengesetz gehorcht. Seine Sittlichkeit ist
somit autonom und heteronom zugleich.
Literatur. F. J. Stein, Historisch-kritische Dar-
stellung der patholog. Moralprinzipien (21879);
C. Gutberlet, Ethik u. Religion (1892); V. Cathrein,
Moralphisosophie (71904); Religion u. Moral
(21904); Th. Meyer, Institutioncs iuris naturalis
1 (21906); W. Schneider, Göttliche Weltordnung
u. religionslose Sittlichkeit (21909); Ph. Kneib,
Die „Heteronomie “ der christlichen Moral (1903);
K. Ch. Scherer, Religion u. Ethos (1908); M.
Cronin, The Science of Ethics 1 (Lond. 1909);
M. Künzle, Ethik u. Asthetik (1910).
Anton Koch.)]
Sittlichkeit, Verbrechen und Ver-
gehen gegen die. Das staatliche Recht, Ver-
letzungen der Sittlichkeit zu ahnden, findet seine
innere Berechtigung in der Pflicht des Staats,
zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung seine
Angehörigen gegen Verletzungen ihres Sittlich-
keitsgefühls zu schützen. Daraus ergibt sich von