1193
(so wenig übrigens Quesnays eigne, viel ge-
mäßigtere Freihandelslehre mit der radikalen seiner
Schule identifiziert werden darf). Wenn man nur
bedenkt, daß Smith mitseiner ökonomischen Theorie
eigentlich eine Art Synthese von Agrikultur= und
Merkantilsystem geben zu können glaubte, so ist
es von vornherein wahrscheinlich, daß er auf der
extremen Seite nicht zu finden sein wird. Freilich
hat er sich hie und da radikaler ausgedrückt, als
es in sein übriges System hineinpaßt; und diese
Stellen wurden dann von den Manchesterleuten
aufgegriffen und in ihrem Sinn ausgebeutet. Über-
blickt man aber abwägend alle die zerstreuten
Außerungen über handelspolitische Fragen, so
kann kein Zweifel sein, daß Smith bezüglich des
die Handelspolitik schließlich bestimmenden Zoll-
wesens mit Bewußtsein folgende Punkte verireten
hat: keine Schutzzölle oder höchstens unter be-
stimmten Voraussetzungen ausnahmsweise; mäßige
Finanzzölle grundsätzlich, deren Höhe den innern auf
der Produktion liegenden Steuern entsprechen soll;
Möglichste Zollfreiheit der zum notwendigen Lebens-
unterhalt der arbeitenden Klassen gehörigen Waren;
Retorsionszölle in den Ausnahmefällen, wo das
Ausland eine feindselige Handelspolitik befolgt,
wenn dieser dadurch mit Erfolg begegnet werden
kann. Das ist kein radikaler Freihandelsstandpunkt,
sondern ausgesprochenste Mittellinienpolitik. Und
ähnliche Zurückhaltung kann auch bei der Finanz-
wissenschaft und insbesondere der Steuerlehre
Smiths festgestellt werden, auf die wir hier nicht
näher einzugehen brauchen, weil sie in den meisten
Einzelheiten längst überholt und veraltet ist. Er
fordert keineswegs einen sofortigen Bruch mit dem
bestehenden Steuerwesen, sondern nur Beseitigung
der ärgsten Ungerechtigkeiten. Der Frage der Über-
wälzung wendet er besondere Aufmerksamkeit zu.
Für seine gesamte Auffassungsweise charakteristisch
sind die vier von ihm aufgestellten Regeln: 1) Die
Untertanen müssen möglichst im Verhältnis ihrer
Leistungsfähigkeit zu den Staatsbedürfnissen bei-
tragen; 2) die Steuer muß nach Höhe, Zeit und
Zahlungsart genau bestimmt, nicht willkürlich
sein; 3) die Zeit und Art der Erhebung müssen
so angeordnet werden, daß der Steuerzahler da-
durch möglichst wenig bedrückt wird; 4) die Er-
hebung muß so eingerichtet werden, daß sie mög-
lichst wenig Kosten verursacht.
5. Würdigung der Virtschaftslehre.
Nach der formalen Seite erhebt sich hier zunächst
die Frage, ob und inwieweit Smith von Vor-
gängern abhängig gewesen ist. Es versteht sich
von selbst, daß er eine Menge zu seiner Zeit be-
reits vorhandenen Materials seinen Ausstellungen
zugrunde gelegt und benutzt hat; und wenn es sich
der Mühe, der sich bis jetzt freilich noch niemand
unterzogen hat, lohnte, würde eine eingehendere
Untersuchung zweifellos eine ganze Menge fleißig
ausgebeuteter Quellen zu Tage fördern. Darum
handelt es sich aber auch gar nicht; es fragt sich
nur, ob Smith diese schon erarbeiteten Einzeler-
Smith.
1194
kenntnisse durch ein ihm eignes ordnendes Prin-
zip zusammengefaßt und mit seinem Geiste so durch-
drungen hat, daß aus ihnen ein neues originelles
System entstanden ist. Es fehlt nicht an Stimmen,
die ihm schöpferische Genialität absprechen; Has-
bach z. B. meint:
„Sowohl das ethische wie das nationalökonomi-
sche Werk beweisen, daß sich Smith an Originalität
des Geistes keineswegs mit Männern wie Descartes
oder Hume messen kann. Er ist kein Pfadfinder der
Wissenschaft, sondern ein im höchsten Maß rezep-
tiver Kopf, der sich von den verschiedensten Seiten
anregen läßt, dem Fremden eine nicht gewöhnliche
produktive Kritik entgegenbringt und die mannig-
fachen Elemente zu einem wohlgeordneten System
zu vereinigen weiß."
Daran ist nur richtig, daß Smith nicht eigent-
lich ein Genie war und sich vielfach von außen
anregen ließ; wenn aber damit gesagt sein soll,
daß er auch inhaltlich seine Theorie aus andern
geschöpft habe, so widerspricht dem die neueste
Forschung. Smiths großer Ruhm und einzig-
artiges Verdienst besteht ja darin, daß er die
wirtschaftlichen Tatsachen unter einem allgemeinen
Gesichtspunkt zusammengefaßt und ihren innern
Zusammenhang aus einem einzigen großen ökono-
mischen Prinzip erklärt und dadurch der Volks-
wirtschaftslehre sofort eine solide Grundlage ge-
geben hat. Wenn also eine Abhängigkeit oder
Beeinflussung prinzipieller Art vorliegen sollte, so
könnte sie nur von solchen ausgegangen sein, die
ebenfalls nach einem entsprechenden einheitlichen
Wirtschaftsprinzip suchten; und das sind nur die
französischen Physiokraten. In der Tat finden
sich bei diesen so viele Berührungspunkte und
Ahnlichkeiten mit Smith, daß a priori die Ver-
mutung nicht abzuweisen ist, dieser lehne sich in
grundlegenden Punkten an jene an oder setze ein-
fach ihre Lehre fort. Es steht jedoch fest, daß sein
System in den Grundzügen bereits vollendet war,
als er 1766 bei seinem Besuch in Paris mit den
Physiokraten in Berührung kam. Insbesondere
kann nach der Veröffentlichung der Glasgower Vor-
lesungen nicht mehr bestritten werden, daß Smith
den Hauptsatz seiner Theorie, den der ökonomischen
Freiheit, völlig unabhängig von den Physiokraten,
die ihn übereinstimmend mit ihm vertreten, auf-
gestellt hat. „Es ist nicht zu befürchten“, heißt es
da, „wenn man den Dingen ihren freien Lauf
läßt, daß es einem Volk an den für den Umsatz
seiner Waren nötigen Geldmengen fehlt; jedes
Ausfuhrverbot ist immer unwirksam und oft nur
die Ursache einer stärkeren Ausfuhr“; ferner: „Es
ist die beste Politik, den Dingen ihren natürlichen
Lauf zu lassen und weder Prämien zu geben noch
Zölle zu fordern.“ Ja Dugald Stewart hat uns
aus einer Rede schon für das Jahr 1755 folgende
Aussprüche aufbewahrt: „man solle in den mensch-
lichen Angelegenheiten nur die Natur ungehemmt
lassen, so werde sie ihr Ziel erreichen und ihre
Absicht verwirklichen“; und „daß der Staat von