1215 Souveränität,
zum Staatsbegriff und seinem Wesen. Wer als
wesentliches Merkmal eines Staats die Souverä-
nität betrachtet und diese als oberste, höchste, keiner
andern irdischen Gewalt unterworfene, nur sich
selbst rechtlich bestimmende Gewalt definiert, der
muß entweder die Souveränität als teilbar oder
beschränkbar betrachten, oder aber diese als un-
teilbar und unbeschränkbar und damit den Glied-
staaten die Souveränität und somit auch die
Staatsqualität absprechen. Wenn wir aber mit
Laband (Deutsches Staatsrecht [1909]) und
Jellinek (a. a. O.) und andern die Souveränität
zwar als eine Eigenschaft der Staatsgewalt, doch
nicht als eine wesentliche ansehen, so betrachten
wir auch die Gliedstaaten eines Bundesstaats als
Staaten, denn sie können durch ihre eignen, aus-
schließlich auf ihrem Willen beruhenden Verfas-
sungen, die ihre Gesetze, nicht die des Bundesstaats
sind, sich organisieren. Sie besitzen auch auf allen
großen Gebieten staatlicher Verwaltung Selb-
ständigkeit; so können sie in verschiedenem Umfang
mit andern Staaten verkehren, sie besitzen eigne
Finanz= und innere Verwaltung. Sie sind also
Staaten; aber souveräne Staaten sind sie nicht.
Laband, Jellinek und andere leiten aus dem Begriff
der Souveränität, als der obersten und höchsten
Macht, die nur sich selbst bestimmt und von keiner
andern Gewalt rechtlich verpflichtende Vorschriften
empfangen kann, auch die Unbeschränkbarkeit und
Unteilbarkeit der Souveränität ab und gelangen
somit zur Annahme souveräner und nichtsouverä-
ner Staaten. Wenn Souveränität die Fähigkeit
ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung ist,
so kann nur der souveräne Staat innerhalb der
von ihm selbst gesetzten oder anerkannten Rechts-
schranken völlig frei den Inhalt seiner Zuständig-
keit regeln; der nichtsouveräne Staat dagegen be-
stimmt sich ebenfalls frei, aber nur innerhalb seiner
staatlichen Sphäre.
Moderne Bundesstaaten sind die nord-
amerikanische Union, die schweizerische Eidgenossen-
schaft und das Deutsche Reich.
1. Die nordamerikanische Union. Nach
der bei den amerikanischen Staatsrechtspublizisten
herrschenden Auffassung besitzt die Union keine
ursprünglichen, sondern lediglich übertragene Ge-
walten. Sie hat nur die Kompetenzen, die ihr
verliehen, die Einzelstaaten haben dagegen alle
Kompetenzen, die ihnen nicht genommen sind. In-
des drang sehr früh die Theorie durch, daß es
außer den ausdrücklich normierten Kompetenzen
der Union auch solche gebe, die ihr stillschweigend,
implicite, zuerkannt worden seien, denn eine Ver-
fassung kann und will niemals erschöpfend sein.
Es ist selbstverständlich, daß die Anwendung all
der Mittel, die einem in der Verfassung des Bun-
desstaats vorgesehenen Staatszweck dienen sollen,
auch zur Kompetenz des Bundesstaats gehören.
Diese Theorie verschafft der Union das allmähliche
Übergewicht über die Einzelstaaten. So hat denn
auch auf allen Gebieten der Legislative wie der
staatsrechtliche. 1216
Exekutive diese Annahme einer „stillschweigenden“
Kompetenzbestimmung zur Begründung oft recht
einschneidender Maßregeln gedient.
Die Union ist ein souveräner Staat, sie muß
also auch im Zweifel die Kompetenzen haben, ohne
die sich ein souveräner Staat nicht denken läßt.
So sprach sich die Union als souveräner Staat
auch das Recht des Territorialerwerbs, der Land-
erwerbung, zu. Aus dieser Souveränität der Union
leiten nun einige Publizisten für die Union über-
haupt alle staatlichen Kompetenzen ab, und zwar
auch auf den von der Verfassung nicht erwähnten
Gebieten. Ausschließlich völkerrechtliches Subjekt
ist nur der Bund, nicht die Einzelstaaten, die so-
mit keine völkerrechtlichen Rechte erwerben, keine
Pflichten auf sich nehmen und nicht deliktsfähig
sein können.
2. Die Schweizerische Eidgenossen-
schaft ist seit der Verfassung vom 12. Sept. 1848
Bundesstaat, und seit der Verfassungsreform von
1874 ist der Bund ausschließlich völkerrechtliches
Rechtssubjekt, wenn auch die einzelnen Kantone noch
ein sehr beschränktes Vertragsrecht behalten haben.
. Die Souveränität im Deutschen
Reich. Das Deutsche Reich ist nach den oben
gegebenen begrifflichen Bestimmungen ein Bun-
desstaat, kein Staatenbund; denn es ist in der
ihm zustehenden Willens= und Rechtssphäre von
der der Einzelstaaten rechtlich unabhängig; es hat
zur Herstellung seines Willens eigne Organe, die
nicht gemeinschaftliche Organe der Einzelstaaten
sind. Die herrschende Meinung unter den Staats-
rechtslehrern spricht den Einzelstaaten die Sou-
veränität, das ausschließliche Selbstbestimmungs-
recht, das sie aber als ein nichtwesentliches Merkmal
der Staatsgewalt bezeichnen, ab und erkennt nur
die des Reichs an. So Laband, Jellinek, Hänel,
Zorn u. a.
Die Kompetenz des Deutschen Reichs ist „po-
sitiv", der Kompetenzumfang der Einzelstaaten ist
„negativ“ festgestellt worden, dergestalt, daß die
Gliedstaaten alle Zuständigkeiten besitzen, die ihnen
nicht genommen, das Reich nur diejenigen besitzt,
die ihm durch Rechtssatz gegeben sind.
Das Reich hat die sog. Kompetenzkompetenz,
d. h. es hat das Recht, seine Kompetenz in den
besondern Formen der Verfassungsänderung zu
erweitern.
Dieses Recht aber zieht in sehr vielen, ja in den
meisten Fällen die Befugnis nach sich, in die Or-
ganisation der Gliedstaatsgewalt bestimmend ein-
zugreifen, z. B. in die Organisation der Gerichte.
So kann das Reich auch, um die Durchführung
seiner Steuergesetze zu sichern, den Einzelstaaten
unter Umständen eine ganze Steuerquelle ver-
stopfen. Aus der Kompetenz des Reichs zur Gesetz-
gebung ergibt sich auch das Recht, die Ausführung
der Gesetze zu überwachen, was ja auch in Art. 4
und 17 der Reichs-Verf. vorgesehen ist. So darf
also kein Einzelstaat die Wirksamkeit einer Reichs-
kompetenz hemmen oder schmälern.