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im Pariser Vertrag vom 30. März 1856. Seit
dieser Zeit ist der Ausdruck „Suzeränität"
so recht eigentlich zur Bezeichnung des Verhält-
nisses der Türkei zu ihren Unterstaaten üblich ge-
worden. Durch den Pariser Vertrag von 1856
und weiterhin durch den Berliner Vertrag von
1878 sind eine Reihe sog. halbsouveräner, d. h.
nichtsouveräner Staaten unter der Suzeränität der
Türkei geschaffen worden. Die sog. Halbsou-
veränität besteht entweder in einer Beschränkung
der völkerrechtlichen Rechtsfähigkeit oder in einer
Beschränkung der Geschäfts= oder Handlungs-
fähigkeit. Die „Halbsouveränität“ ist gewöhnlich
nureine Entwicklungsstufe entweder von der völligen
Abhängigkeit zur uneingeschränkten Selbständig-
keit, also zur Souveränität, oder umgekehrt von
dieser zur völligen Einverleibung. So sind die
meisten zurzeit existierenden sog. halbsouveränen
Staaten aus ehemaligen Provinzen der Türkei
entstanden. Solche halbsouveränen oder, richtiger
ausgedrückt, nichtsouveränen Staaten können nur
durch den Willen eines souveränen Staats gebildet
werden. Ihm, diesem Suzerän, müssen alle dem
neuen, halb= oder nichtsouveränen Staat über-
tragenen Rechte einst zugestanden haben. Die
„halbsouveräne“ Staatsgewalt ist also von der
souveränen abgeleitet, aber in ihrer Sphäre ist sie
vollkommen kompetent, sie handelt ihren Untertanen
gegenüber nicht in fremdem Namen. Der „halb-
souveräne“ Staat unterscheidet sich vor allem auch
dadurch von der Provinz oder Kolonie, daß bei
diesen der völkerrechtliche Verkehr begrifflich völlig
ausgeschlossen ist. (So kann z. B. Tunis diplo-
matische Vertreter nur unter Vermittlung des
französischen Ministerresidenten empfangen, aber
nicht schicken, während Bulgarien diplomatische
Vertreter bei allen Großmächten unterhält); das
Recht der Kriegführung der „halbsouveränen“
Staaten ist meist auf Verteidigungskrieg beschränkt,
dagegen können sie Handelsverträge, Literarkon=
ventionen u. dgl. abschließen; Bulgarien hat auch
an der Haager Friedenskonferenz teilgenommen.
Der „halbsouveräne“ Staat kann auch innerhalb
seiner Rechtssphäre mit dem Oberstaat Verträge
schließen. Der Unterstaat ist heute nicht mehr ver-
pflichtet, am Krieg des Oberstaats teilzunehmen,
weshalb auch der aus früheren Zeiten herrührende
Ausdruck Vassallität als Bezeichnung für das
Rechtsverhältnis von „Halbsouveränität“ nicht
mehr zutreffend ist.
Das Rechtsverhältnis des nicht= oder „halb-
souveränen“ Staats zu seinem Oberstaat kann
unter die Garantie dritter Mächte gestellt sein
(ogl. d. Art. Garantie, völkerrechtliche, Bd II,
Sp. 408).
Die wichtigsten noch heute in diesem Verhältnis
der Suzeränität stehenden Staaten sind:
1. Unter Suzeränität der Türkei:
a) Agypten, wenn auch die Engländer seit 1882
durch ihre Besetzung tatsächlich Agypten regieren;
b) Bulgarien seit dem Berliner Vertrag von
Sozial — Sozialdemokratie.
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1878, während Rumänien, Serbien und
Montenegro ihre volle Souveränität
erlangt haben; c) Samos und Kreta.
2. Unter der Oberherrlichkeit Frank-
reichs: die indischen Königreiche Kambodscha
und Annam, ferner Tunis.
3. Unter der Suzeränität Englands stehen
die indischen Vassallenstaaten (die aber keine völker-
rechtliche Persönlichkeit besitzen), Afghanistan, das
Sultanat von Sansibar.
Literatur. Siehe die Angaben zu den Art. Ga-
rantie, völkerrechtliche (Bd II, Sp. 413), Gesandte
(Bd ll. Sp. 536 f) u. Souveränität, staatsrechtliche
(Bd XIV, Sp. 1220 f). Ferner: Borel, Etude sur
la souveraineté et I’état fédératif (Bern 1886);
Resch, Das Papsttum u. das Völkerrecht (1889);
Heilborn, Das völkerrechtliche Protektorat (1891);
Westerkamp, Staatenbund u. Bundesstaat. Unter-
suchungen über die Praxis u. das Recht der moder-
nen Bünde (1892); Imbart de la Tour, La pa-
pauté en droit international (1893); v. Stengel,
Die deutschen Schutzgebiete, ihre rechtliche Stel-
lung, Verfassung u. Verwaltung (31895); Born-
hak, Einseitige Abhängigkeitsverhältnisse unter den
modernen Staaten (1896); Despagnet, Essai sur
les Protectorats (1896); Jellinek, Staatsfrag-
mente, in der Festgabe zur Feier des 70. Geburts-
tags des Großh. Friedrich 1. von Baden, darge-
bracht von der jurist. Fakultät der Universität
Heidelberg (1896); Huber, Die Staatensukzession
1898); Gierke, Das Wesen der menschlichen Ver-
bände (Rektoratsrede, 1903); Huber, Die Ent-
wicklungsstufen des Staatsbegriffs. Eine Antritts-
rede (1903); v. Rogister, Zur Lehre von der
Staatennachfolge. Gibt es einen stillschweigenden
Eintritt in Staatsverträge? (1903); Boghitché-=
vitch, Halbsouveränität; Administrative u. polit.
Autonomie seit dem Pariser Vertrag 1856 (1903);
Rieß, Auswärtige Hoheitsrechte der deutschen Ein-
zelstaaten, in den Abhandlungen aus dem Staats-
u. Verwaltungsrecht mit Einschluß des Kolonial-
rechts, hrsg. von Brie u. Fleischmann, 11.Hft (1905);
Florack, Die Schutzgebiete, ihre Organisation in
Verfassung u. Verwaltung, in Abhandlungen aus
dem Staats-, Verwaltungs= u. Völkerrecht 1, hrsg.
von Zorn u. Stier-Somlo, 4. Hft (1906); Dienst-
fertig, Die rechtliche Mitwirkung des Bundes-
rats u. des Reichstags auf dem Gebiet der auswär-
tigen Angelegenheiten des Deutschen Reichs (1907);
v. Liszt, Das Völkerrecht (5/1907); v. Ullmann,
Völkerrecht (21908); Störk, Völkerrecht u. Völker-
kourtoisie, in Festgabe für Laband zum 50. Jahres-
tag der Doktorpromotion I (1908); W. Schücking,
Die Organisation der Welt (ebendort).
LE. Baumgartner.)
Sozial s. Sozialwissenschaft.
Sozialdemokratie. II. Begriff. II. Ge-
schichte. III. Erfurter Programm. IV. Innere
Krisen. 1. Die „Jungen“; 2. Vollmar; 3. Bern-
stein; 4. die Agrarfrage; 5. die Handelspolitik;
6. die Budgetbewilligung; 7. die Gewerkschafts-
bewegung; 8. Jugend-, 9. Frauenbewegung.
V. Verbreitung in den einzelnen Ländern.]
I. Begriff. Die Sozialdemokratie als Zu-
sammenschluß der sozialistisch gesinnten Arbeiter
—