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frühere Professor Enrico Ferri. Spanien, das
in seiner industriellen Entwicklung noch weit zurück
ist, hat eine sozialdemokratische Partei von 25 400
Wählern. In den nordischen Ländern Däne-
mark, Schweden und Norwegen stand die
Arbeiterbewegung von Anfang an unter dem Ein-
fluß der deutschen Sozialdemokratie. Die reiche
industrielle Entwicklung Schwedens und Däne-
marks findet ihr Widerspiel in der Zunahme der
sozialdemokratischen Stimmen. Es zählten 1909
Dänemark 100 000, Norwegen 43.000, Schweden
133.000, während 1879 nur ein einziger Arbeiter-
verein in letzterem Land bestand. In England,
dem klassischen Land des Kapitalismus, hat dank
dem auf das Praktische gerichteten Sinn des Eng-
länders die Sozialdemokratie sehr wenig Boden
gefunden, trotzdem Marx selbst und Aveling von
London aus die Agitation leiteten. Der englische
Arbeiter betrieb statt theoretischer Schwärmerei
die praktische Arbeit in den Gewerkschaften, was
Engels selbst das Geständnis abgelockt hat: „Ich
bin nun doch zu der Ansicht gekommen, daß die
englischen Arbeiter gar nicht daran denken, der
kapitalistischen Wirtschaft den Garaus zu machen,
sondern nur noch darauf bedacht sind, sich mög-
lichst gut unter ihr zu stellen.“ Angesichts dieser
Gesinnung der englischen Arbeiterschaft kann es
nicht überraschen, wenn die zwei sozialistischen
Parteien — die unabhängige Arbeiterpartei unter
Führung des Schotten Keir Hardie und die so-
zialdemokratische Föderation (Socialdemocratie
Federation) unter Führung des Advokaten Hynd-
mann — bei den Wahlen 1900 es nur auf 50 000
Stimmen gebracht haben. Dagegen bedeutet es
einen Wandel der Dinge, wenn 1910 die Partei
505 696 Stimmen erhielt. Dieselbe Geistesrich-
tung auf das Praktische war auch in Nordame-
rika der Ausbreitung der Sozialdemokratie nicht
günstig. Die Agitatoren für die sozialdemokratische
Bewegung in den Vereinigten Staaten sind ein-
gewanderte, zumeist deutsche Sozialisten. Die
„Sozialistische Arbeiterpartei Nordamerikas",
welche in den 1870er Jahren sich gebildet hatte
und in den 1880er Jahren infolge der wirtschaft-
lichen Krisen an Ausdehnung gewann, konnte
nennenswerte Erfolge nicht erreichen. Von den
überseeischen Ländern ist noch Australien mit
dem „Australischen Sozialistenbund“ zu nennen.
Hauptsitz der Bewegung ist die Hauptstadt Sidney.
Literatur. Sozialdemokratische: „Manifest der
kommunistischen Partei“ (Das kommunistische Ma-
nifest, Flugblatt im Verlag des „Vorwärts"“):
Marx, Das Kapital, 3 Bde; Engels, Eugen Düh-
rings Umwälzung der Wissenschaft, u. daraus: Die
Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur
Wissenschaft; Bernstein, Zur Geschichte u. Theorie
des Sozialismus (71907); ders., Die Voraus-
setzungen des Sozialismus u. die Aufgaben der S.
13. Taus. 1909); Kampffmeyer, Wohin steuert die
staatliche u. ökonomische Entwicklung? (1901);
Kautsky, Das Erfurter Programm in seinem grund-
sätzlichen Teil (21908); ders., Ethik u. materialist.
Sozialethik — Sozialismus.
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eschichtsauffassung (1906); Gorter, Der histor.
Materialismus (1909); Tugan-Baranowsky, Der
moderne Sozialismus in seiner geschichtl. Entwick-
lung (1908); Mehring, Geschichte der deutschen S.
(4 BDde, 11909); Schroeder, Handbuch der sozial-
demokrat. Parteitage 1863/1909 (1910). Außerdem
die Protokolle der verschiedenen Parteitage im Verlag
„Vorwärts“. Für den utopist. Sozialismus: Bebel,
Die Frau (511910). Für Handelspolitik: Calwer,
Arbeitsmarkt u. Handelsverträge (1901); Schippel,
Grundzüge der Handelspolitik (1902). Für die
Agrarfrage: Kautsky, Die Agrarfrage (21902);
David, Sozialismus u. Landwirtschaft, I: Die Be-
triebsfrage (1903). über die materialist. Geschichts-
auffassung außer Marx, Engels, Bernstein noch die
Schriften von J. Dietzgen, Streifzüge eines So-
zialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie; ders.,
Erkenntuis u. Wahrheit (1908); besonders Ham-
macher, Das philosophisch-ökonomische System des
Marxismus (1909).
Über die sozialistische Bewegung in
den einzelnen Ländern: Jahrbuch für So-
zialwissenschaft u. Sozialpolitik 1879/80; Win-
terer, Der internationale Sozialismus von 1885
bis 1890 (1890); ders., Die soziale Gefahr oder der
Sozialismus während der letzten zwei Jahre in
Europa u. Amerika (1885); Wyzewa, Die sozialist.
Bewegung in Europa (1892); Sartorius, Der mo-
derne Sozialismus in den Ver. Staaten (1890);
Nostiz, Das Aufsteigen des Arbeiterstands in Eng-
land (1900); Sombart, Warum gibt es in den
Verein. Staaten keinen Sozialismus? (1906);
Schwechler, Österreich. S. (21907); Herkner, Die
Arbeiterfrage (71908). Ferner die Zeitschriften
„Neue Zeit“ u. die revisionistischen „Sozialistische
Monatshefte“ (seit 1894), die „Neue Gesellschaft"
(seit 1905), in Osterreich „Der Kampf“" (seit 1907).
Zur Geschichte der S.: Adler, Art. „S.“ im
Handwörterbuch der Staatswissenschaften; derf., Ge-
schichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung
in Deutschland (1885); Bernstein, Zur Geschichte
der Verliner Arbeiterbewegung (3 Bde, 1907/10);
Cathrein, Der Sozialismus (101910); Mayer,
J. B. v. Schweitzer u. die S. (1909); Pesch, Der
moderne Sozialismus (1900); Sombart, Sozia-
lismus u. soziale Bewegung (51908); Meffert,
Arbeiterfrage u. Sozialismus (1901); Meyer, Der
Emanzipationskampf des vierten Standes (2 Bde,
1882). — Vgl. auch die Lit. bei Art. Sozialismus.
[Meffert.]
Sozialethik s. Sozialwissenschaft.
Sozialismus. (Begriff. Sozialistische Er-
scheinungen und Theorien im Altertum, während
des Mittelalters und der Zeiten der Kirchentren-
nung. Das Wiederauftauchen derartiger Ideen im
18. Jahrh. Der St-Simonismus. Das System
Fouriers und seiner Schüler. Andere französische
Sozialisten. Das Jahr 1848 in Frankreich. Owen.
Die deutschen Sozialisten um die Mitte des
19. Jahrh. Lassalle. Herzen. Der Marxistische So-
zialismus. Die Bernsteinsche Richtung.])
Unter Sozialismus ist jenes in mannigfachen
Formen zur Erscheinung gelangende Lehrgebäude
zu verstehen, welches die Reglung und Leitung
der gesamten Güterproduktion im weitesten Sinn
dieses Worts, also mit Einschluß des Güteraus-
tausches durch den Staat oder die Gesellschaft