Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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(Par. 1814) und sodann in seinem Systeme in- 
dustriel (ebd. 1821 u. 1822) niedergelegt. Er 
geht davon aus, daß zu seiner Zeit die Industrie 
(worunter er die produktive Tätigkeit im allge- 
meinen, also vor allem auch die im Landbau und 
der Viehzucht zutage tretende, versteht und deren 
allmähliche Entwicklung zu ihrer vollen Entfaltung 
er ganz richtig zur Darstellung bringt) im fakti- 
schen Besitz der Herrschaft in der menschlichen Ge- 
sellschaft sei, wenn sie auch nicht als ihre gesetzliche 
Inhaberin anerkannt werde. Diese Anerkennung 
müsse aber angestrebt werden, denn ein sozialer 
und politischer Zustand, in dem die Industrie 
alles leite und vollbringe, und zwar zu ihrer För- 
derung und ihrem Nutzen, sei der des Friedens, 
welcher in vorteilhaftem Kontrast zum feudalen 
System mit seinen ewigen Kriegen und seiner 
Klassenherrschaft und dem, wie er sagt, gouverne- 
mentalen System stehe, welch letzteres sich einseitig 
von den Interessen und den Gesichtspunkten der 
Staatsregierung leiten lasse. 
Frankreich ist nach St-Simons Anschauungen 
geeigneter, die vollständige Verwirklichung des 
industriellen Systems zu bewirken, als England. 
Die (damals noch bestehende) französische Mon- 
archie werde sich leichter dazu bereit finden lassen 
als der englische Parlamentarismus, da hier das 
Oberhaus (wie es zu jener Zeit faktisch noch der 
Fall war) den überwiegenden Einfluß besitze. Eine 
Klasse einflußreicher, große Vermögen besitzender 
Familien mit ihrer Anhänglichkeit an die Über- 
lieferungen der Vergangenheit werde keine Nei- 
gung haben, selbst industriell tätig zu sein und sich 
weit schwerer zu der vorzunehmenden legalen Um- 
gestaltung bereit finden lassen als das Königtum, 
dessen Stellung naturgemäß auch unter der neuen 
Ordnung der Dinge eine bedeutende bleiben müßte. 
Wenn das Königtum in Frankreich seine neue 
Aufgabe erfaßt und akzeptiert habe, und wenn in 
England das aus Vertretern der Industrie zu- 
sammenzusetzende Unterhaus im Besitz der Macht 
sein werde, sei der Weltfriede zur Herrschaft ge- 
langt. Es würden die Regierungen der übrigen 
Länder der vereinten Macht Frankreichs und Eng- 
lands sich nicht gewachsen fühlen, und es sei dann 
die Zeit gekommen, wo sich alle Nationen unter 
das Protektorat dieser beiden Staaten stellen und 
das industrielle System zur Einführung gelangen 
lassen würden. Von gewaltsamem Umsturz will 
St-Simon nichts wissen. Es soll alles auf legalem 
Weg umgestaltet werden. Auf diesem Weg, also 
auch unter Mitwirkung des Königs, sollen die 
industriellen Bevölkerungselemente die in der Volks- 
vertretung herrschenden werden. Das alles ist nun, 
wie man auch über die Berechtigung dieser Ideen 
denken mag, durchaus nicht sozialistisch. Sozia- 
listisch ist nur der Grundgedanke, daß die produktive 
Arbeit (die Industrie im weitesten Sinn) die aus- 
schlaggebende Stellung im Staat erhalten soll. 
Der Sozialismus im vollen Sinn tritt auch 
nicht in den agrarischen Forderungen zutage. 
  
Sozialismus. 
  
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Unser Autor weist nämlich auf einen Unterschied 
zwischen der gewerblichen, der kleingewerblichen so- 
wie der fabrikmäßig betriebenen Produktion und 
der, wie in gewissen andern Ländern, so auch in 
Frankreich vielfach vorherrschenden Art des land- 
wirtschaftlichen Betriebs hin. Die gewerblichen 
Unternehmer mit Einschluß der Kaufleute haben 
die freie Verfügung über die von ihnen zum Be- 
huf des Betriebs ihrer Unternehmungen entliehenen 
Kapitalien. Sie können davon den Gebrauch ma- 
chen, welcher ihnen im Interesse ihres Unter- 
nehmens der geeignetste erscheint, während es sich 
mit den ländlichen Unternehmern, soweit sie nicht 
selbst wirtschaftende Eigentümer sind, umgekehrt 
verhält. Die Pächter stehen in vollständiger Ab- 
hängigkeit von den Eigentümern. Sie dürfen nur 
insoweit Veränderungen, und seien sie noch so vor- 
teilhaft, an Grund und Boden, an den Baulich- 
keiten usw. vornehmen, als sie die Einwilligung 
des Eigentümers dazu erlangen. Das sollte nun 
nach St-Simons Ansicht anders werden. Der 
Pächter hätte ihm zufolge dem gewerblichen Unter- 
nehmer gleichgestellt, ein unabhängiger Unterneh- 
mer zu werden und demnach auch die Steuern zu 
entrichten. So würde denn auch den Pächtern das 
Wahlrecht eingeräumt werden müssen, sie würden 
demnach in Gemeinschaft mit den städtischen Pro- 
duzenten bei den Wahlen den Ausschlag geben 
und in den Besitz der politischen Gewalt gelangen. 
Auf diese Weise könnten dann die der industriellen 
Entwicklung am meisten förderlichen Gesetze und 
Maßregeln ins Leben gerufen werden. 
Die Durchführung dieser Emanzipation der 
ländlichen Pächter würde durch ein Gesetz, das 
die folgenden Verfügungen enthielte, zu bewerk- 
stelligen sein. Es sollten der Eigentümer und der 
Pächter beim Aufhören des Pachtverhältnisses den 
Wert der bewerkstelligten Verbesserungen des Guts 
wie anderseits auch den Betrag der stattgehabten 
Deteriorationen zur Hälfte unter sich verteilen, 
und zweitens die Pächter berechtigt sein, die 
Eigentümer zu nötigen, ihnen die zur Vornahme 
von Meliorationen erforderlichen Summen zu ge- 
währen und die Verwendung derselben zu über- 
lassen. Für den Fall, daß sich der Eigentümer 
weigern sollte, die verlangte Summe zu bewilligen, 
müsse ein Schiedsgericht angerufen werden, dessen 
Entscheidung sich die Parteien zu unterwerfen 
hätten. Um dem infolge derartiger Bestimmungen 
zu erwartenden großen Kreditbedürfnisse Befriedi- 
gung zu verschaffen, seien Bankinstitute ins Leben 
zu rufen. 
Man sieht, St-Simon ist für seine Person kaum 
ein Sozialist zu nennen. Er bekämpft die sich 
dem sog. Absentismus ergebende, sich aller Teil- 
nahme an der produktiven Arbeit enthaltende 
Grundbesitzerklasse, welche in England, Frankreich 
und Italien so zahlreich ist. Er geht aber nicht 
einmal so weit wie später der Agrarsozialist Henry 
George, welcher in seinem im Jahr 1881 er- 
schienenen Werk Progress and Povert) bie Na-
	        
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