Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1249 
fantin mit 40 Anhängern, worunter sich auch 
Michel Chevalier befand, auf einer ihm gehörigen 
Besitzung bei Paris eine kommunistische Wirtschaft 
phantastischer Art mit einer neuen, von Enfantin 
gepredigten Religion. Die Mitglieder der Gemein- 
schaft waren behufs der Arbeit in Gruppen verteilt. 
Man teilte seine Zeit zwischen körperlicher Arbeits- 
leistung, der Anhörung philosophisch-religiöser 
Vorträge und der Vornahme gewisser Zeremonien. 
Enfantin stand der Genossenschaft unter dem 
Titel „Vater“ als Gesetzgeber und Leiter vor. 
Allein auch dieses Unternehmen sollte nicht von 
Dauer sein. Es ist fast bedauerlich, daß die 
Behörden des Juli-Königtums auf Grund der 
bestehenden Gesetze gegen die Genossenschaft als 
gegen illegale vorgehen und wegen Verletzung der 
Sittlichkeit einschreiten mußten. Es wäre jeden- 
falls ein lehrreiches Beispiel gewesen, wenn man 
damit so lang gewartet hätte, bis sich die Ge- 
nossen in die Haare geraten wären. Sie hatten 
nicht Zeit dazu. Sie waren nur von Mai bis 
August beisammen, da die Verurteilung ihres 
„Vaters“ zu einem Jahr Gefängnis sie ausein- 
ander trieb. Ebensowenig wie dieser verunglückte 
Versuch haben Enfantins Werke, unter denen seine 
zconomie politique et Politique Saint-Simo- 
nienne (Par. 1831) und seine Morale (ebd. 1832) 
erwähnt seien, eine praktische Wirkung gehabt. 
In vielen Punkten mit den St-Simonisten 
verwandt, aber von dem mystisch-phantastischen 
Ideenkram und dem Aufputz Enfantins und der 
Neigung, seine Anschauungen mittels der staat- 
lichen Abschaffung des Eigentums und des Erb- 
rechts zur Ausführung bringen zu wollen, ent- 
fernt, ist Charles Fourier, der sein System in 
verschiedenen Werken, von denen La théorie des 
duatre mouvements et des destinées géné- 
rales (Par. 1808) und Traité de l’association 
domestique-agricole (2 Bde, Besangon 1822) 
zu nennen sind, niedergelegt hat. Fourier wollte 
die menschliche Gesellschaft nach den Gesetzen der 
attraction passionnée einrichten, d. h. jedem in 
der Organisation der menschlichen Arbeit und der 
Verteilung der Genüsse den Platz anweisen, den 
er seinen Neigungen nach einnehmen möchte. Er 
betrachtete den Genuß als das Naturgemäße. Von 
Gott ist bei Fourier viel die Rede, aber in sehr 
verworrener Weise, so daß man zweifelt, ob dieser 
Gott vom Universum verschieden ist. Gott offen- 
bart sich in uns durch die angebornen Triebe, und 
deshalb sind diese alle gut, keiner ist unnütz und 
schlecht. Von einer Beherrschung der Leidenschaften 
wollte er deshalb auch nichts wissen. Die unselige 
Lehre J.-J. Rousseaus, des Popularisators der 
plattesten, unwissenschaftlichsten Humanitätsphrase, 
daß der Mensch von Natur gut und vollkommen 
sei, klingt auch in dem Lehrgebäude Fouriers wider. 
Er weiß nichts von Mißbrauch der Willensfreiheit 
und von Erbsünde. Die Leidenschaften sind ihm 
etwas von Gott in die menschliche Natur Gelegtes. 
Darum freie Bahn für ihre Belätigung! 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Sozialismus. 
  
1250 
Es handelte sich also für Fourier und seine An- 
hänger nur darum, eine Organisation zu schaffen, 
welche einem jeden das Leben und Arbeiten nach 
seinen Neigungen und Trieben gewährleisten würde. 
Um diese Organisation systematisch zu begründen, 
entwarf er eine Art von psychologischem System. 
Er behauptete nämlich, daß durch die wohlorgani- 
sierte Arbeit der menschlichen Seele in verschiedener 
Hinsicht Befriedigung gewährt werde. Sie be- 
friedige nicht minder die Triebe des Luxus — denn 
aus ihr entspringen die Sachgüter — als diejenigen 
des Verkehrs und Austausches mit den Menschen, 
indem sie die in den verschiedenen Arbeitszweigen 
Beschäftigten zusammenführe und dadurch kame- 
radschaftliche, Freundschafts= und Familien-Be- 
ziehungen unter den Menschen begründe. Endlich 
aber gewähre die Arbeit auch den von Fourier 
sog. Serientrieben Befriedigung. Er unterscheidet 
deren verschiedene: die cabaliste, welche sich 
auf die Betätigung des Wetteifers in nützlicher 
Tätigkeit unter den Menschen richtet, die papil- 
lonne, welche abwechselnde Beschäftigung an- 
strebt, usw. Auf Grund dieses Raisonnements will 
er nun den Menschen die Möglichkeit verschaffen, 
sich in den verschiedenen Arbeitszweigen nach 
ihrem Belieben zu beschäftigen und nutzbar zu 
machen. Wer gern den Acker baut, wird in der 
entsprechenden Arbeiterschar der Arbeitsgenossen- 
schaft des Phalanstre verwendet. Wer sich gern 
bei Bauarbeiten beschäftigen läßt, findet stets die 
Maurerkelle bereit. Wird ihm diese Verrichtung 
lästig, und möchte er lieber Tischlerarbeit tun, so 
steht ihm der Hobel zur Verfügung, den ihm ein 
poetisch gestimmter Möbelarbeiter, der lieber im 
Freien die Natur betrachtet und Blumen zu be- 
gießen vorzieht, freundlich überreicht. Unter- 
nehmende Jünglinge lassen sich als Matrosen ver- 
wenden. Wenn sie ein Stück Erde gesehen haben 
und von Amors Pfeil getroffen werden, kehren sie 
dem Meer den Rücken, um sich als Milchmeier 
nützlich zu machen. Natürlich werden überall so 
viele auf stetige Beschäftigung gerichtete Arbeiter 
vorhanden sein, daß sich in jeder Arbeitsbranche 
die genügende Anzahl hinreichend fertiger und 
ausgebildeter Individuen findet, um der Schar 
der den Wechsel liebenden Persönlichkeiten wenig- 
stens die nötigsten Handgriffe in den neu er- 
griffenen Beschäftigungszweigen beibringen zu 
können. 
Auf die mit Recht viel gerühmten Vorteile, die 
infolge der Arbeitsteilung in den verschiedenen Pro- 
duktionszweigen errungen werden, wird in Fouriers 
Gesellschafts= und Wirtschaftsordnung allerdings 
verzichtet werden müssen. So gute, zartfühlende, 
ätherische Wesen, wie sie diese Organisationsform 
und überhaupt jede Art der sozialistischen Pro- 
duktionsform voraussetzt, werden sich allerdings 
aus lauter Menschenliebe mit Hausbrot, Milch- 
suppe und Birnen begnügen und sich gern in sack- 
artige Gewänder hüllen. Der wahre Menschen- 
freund sieht ja auf das Herz und nicht auf den 
40
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.