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sönlichkeiten zerstört und der unerträglichsten Regle-
mentierung unterzogen wird.
So erscheint all das Gerede von Menschen-
liebe und Brüderlichkeit, all das Gerede, daß der
Sozialismus die Verwirklichung der Gesetze der
Liebe im Bereich der menschlichen Gesellschaft be-
deute, eitel und nichtig. Alle würden durch eine
gleiche Erziehung, gleiche Bildung auf ein mög-
lichst gleiches Niveau der Mittelmäßigkeit und
geistigen Bedeutungslosigkeit herabgedrückt wer-
den. Jede selbständige Regung wird verdächtigt,
und jedermann, der sich mit dem Inhalt der so-
zialistischen Ideenwelt in Widerspruch setzt oder
gar den Versuch macht, sich tatsächlich dagegen
aufzulehnen, wird entweder bestraft, aus der mensch-
lichen Gemeinschaft ausgestoßen oder für krank er-
klärt, was auf das gleichehinauskommt. Die Behand-
lung, die einem derartig für erkrankt Erklärten zu-
teil wird, ist eine solche, daß sie sich in nichts von der-
jenigen in einer heutigen Strafanstalt unterscheidet.
Durch die auf die Ausschreitungen des Jahrs
1848 folgende Reaktion wurde die Propaganda
des Sozialismus in Deutschland für einige Zeit
sehr erschwert und demnach machte sich ein Still-
stand auch in der schriftstellerischen Vertretung
desselben bemerkbar. Aber sobald in Preußen die
sog. „neue Ara“ anbrach, begann sich im sozia-
listischen Heerlager neues Leben zu regen. Ferdi-
nand Lassalle (s. d. Art.) trat auf den Schau=
platz. In seinem „System der erworbenen
Rechte“ (18611) versuchte er mit sehr einseitiger,
aber desto sicherer auftretenden Argumentations-
weise, welche auf Laien in der Wirtschafts= und
Sozialwissenschaft ihre Wirkung selten verfehlt,
den Nachweis zu erbringen, daß der kulturhisto-
rische Gang der Ereignisse und Verhältnisse und
die ihn begleitende Rechtsentwicklung die Eigen-
tumssphäre des Individuums immer enger und
enger gestalte, da eine immer beträchtlicher werdende
Anzahl von Gegenständen dem Privateigentum
entzogen werde. Auf diese Weise bereite sich also,
so argumentierte Lassalle, die Gestaltung des Zu-
kunftsstaats mit dem ausschließlichen Besitz der
Produktionsmittel durch das Gemeinwesen all-
mählich vor. Wenn aber diese mit dem geschicht-
lichen Entwicklungsgang in Widerspruch stehende
Theorie keinen großen Schaden anrichten konnte,
und wenn weiter auch seine Befürwortung der Er-
richtung von Produktivgenossenschaften mit staat-
licher Unterstützung ohne praktische Erfolge blieb,
so ist Lassalles Tätigkeit in anderer Hinsicht eine
für den Sozialismus sehr nachhaltige gewesen.
Er stellte nämlich in dem von ihm im Jahr 1863
erlassenen Antwortschreiben an das Zentralkomitee
zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiter-
kongresses die Theorie des sog. ehernen Lohngesetzes
auf. Er behauptete, daß sich der durchschnittliche
Arbeitslohn unter der Herrschaft von Angebot und
Nachfrage stets auf den zur Ermöglichung des
unumgänglich notwendigen Lebensunterhalts er-
sorderlichen Betrag reduziere.
Sozialismus.
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Diese falsche Theorie steht abermals mit den
Tatsachen im grellsten Widerspruch. Die Fakta,
auf welche sie sich stützt, haben sich im großen und
ganzen nur zu einer bestimmten Zeit ereignet.
Was zu einer Zeit und eigentlich auch nur in
England der Fall gewesen war, wo die Arbeiter-
massen der neu entstandenen Großindustrie noch
ohne jegliche Organisation gegenüberstanden, was
in einer Epoche hatte zutage treten können, in
welcher gleichzeitig auch das religiös-sittliche Ge-
fühl in demselben Reich tief gesunken war, konnte
auf die Dauer keinen Bestand haben. Sobald die
gewerkschaftliche, in gemäßigteren oder extremeren
Vereinen sich vollziehende Organisation des vierten
Stands eine gewisse Ausbildung erreicht hatte,
trat dort ein Umschwung in den Lohnverhältnissen
ein. Die Löhne stiegen vielfach ganz bedeutend.
Die mächtige Waffe der Streiks verfehlte ihren
Zweck selten, wenn die Unternehmer in der Lage
waren, den Forderungen der Arbeiter nachzu-
kommen. Ja es muß festgestellt werden, daß,
wenn auch infolge lokaler Verhältnisse noch vielfach
ungenügende Löhne vorkommen, anderseits die
Arbeitseinstellungen hier und dort mit so großer
Wirksamkeit in Szene gesetzt worden sind, daß die
dadurch erreichte Lohnerhöhung bedeutend genug
war, um den teilweisen Rückgang der Industrie
eines Lands herbeizuführen. Bei der in Frankreich
im Jahr 1884 veranstalteten großen staatlichen
Gewerbeenquete ist das mehrfach festgestellt worden.
So kann es denn nicht in Erstaunen setzen, daß
Lassalles ehernes Lohngesetz von den Männern der
Wissenschaft als irrig erkannt und selbst von den
meisten Sozialisten ausgegeben wurde. Auf dem
sozialistischen Parteilag zu Halle wurde die Un-
haltbarkeit des ehernen Lohngesetzes offen aner-
kannt. Nichtsdestoweniger wird es noch lange Zeit
währen, bis dieser Irrtum in weiten Schichten der
Halb= und Unwissenden seine Zugkraft verloren
haben wird. Lassalle begnügte sich aber nicht da-
mit, durch das eherne Lohngesetz die private
Produktionsweise zu diskreditieren, er erhob auch
direkte Angriffe gegen den Unternehmergewinn in
seiner Streitschrift „Bastiat-Schulze v. Delitzsch,
der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit“
(1864).
Schon vor Lassalle war der Russe Alexander
Herzen von seinem Zufluchtsort Genf aus in
seinen Schriften „Vom andern Ufer“ und „Die
Entwicklung der revolutionären Ideen in Ruß-
land“ als Lobredner des Sozialismus aufgetreten,
für den er Vorbilder in den übrigens nicht ur-
sprünglichen slawischen Gemeindeinstitutionen mit
ihrem Gesamtbesitz zu finden glaubte. Der rus-
sische Mir, d. h. die russische Dorfgemeinde, ent-
hält ein gewisses sozialistisches Element. Die
Organisation des bäuerlichen Besitzes besteht darin,
daß die einzelnen Grundstücke abwechselnd auf eine
bestimmte Zeit an die verschiedenen Familien ver-
teilt werden, die sie dann, nachdem ihre Besitzzeit
abgelaufen, einer andern Familie abtreten müssen,