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liche, vergängliche Produkte wie Staat, Familie,
Eigentum.
Es ist hier nicht der Ort, die wissenschaftliche
Unhaltbarkeit der materialistischen Geschichtsauf-
fassung, die auch auf der materialistischen Weltan-
schauung ruht, darzutun. Jede Geschichtsauffas-
sung bleibt das Werk eines Geistes. Der Ent-
wicklungsgedanke ferner gehört der organischen,
teleologischen Weltauffassung an, nicht der me-
chanischen, materialistischen. Wo Entwicklung, da
ist ein Keim, Gesetz, Ziel, für welche der Stoff
an sich die ausreichende Erklärung nicht zu bieten
vermag. Man hätte sodann erwarten dürfen, daß,
wer eine Geschichtsauffassung von so allgemeiner
Bedeutung aufstellt, die Wahrheit derselben aus
der Geschichte selbst genügend erhärte. Statt dessen
hat man sich begnügt, nur für vereinzelte Fälle den
Einfluß der wirtschaftlichen Lebensbedingungen
auf die Geschichte der Völker hervorzuheben — ein
Einfluß, der von niemand bestritten wird. Es
kam aber darauf an, die Allgemeinheit und Aus-
schließlichkeit dieses Einflusses im Sinn der mate-
rialistischen Geschichtsauffassung darzutun, nach-
zuweisen, daß die entscheidende Leitung der Ge-
schichte lediglich und allein und überall der Okonomie
und in letzter Linie der Technik anheimgefallen sei.
Eine solche Beweisführung aber fehlt. Insbeson-
dere wurde die Behauptung, der ideologische Über-
bau, Philosophie, Religion, Recht und Moral
hätten in letzter Linie als das Produkt wirtschaft-
licher Tatsachen und Verhältnisse zu gelten, gerade
von den intelligentesten Anhängern des modernen
Sozialismus (wie Belfort-Bax, Bernstein, Sorel)
als unhaltbar und irrig preisgegeben.
Auch die Darlegung der besondern Entwick-
lungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft — die
angeblich naturnotwendig zum „Zukunftsstaat"“
überleiten — ist von keinem höheren wissenschaft-
lichen Wert als die materialistische Geschichtsauf-
fassung im allgemeinen. Im Vordergrund steht
die „Verelendungstheorie“ auf der Unterlage der
Marxistischen Werttheorie. Der Arbeiter, durch
das Privateigentum von den Produktionsmitteln
getrennt, erzeugt sein eignes Produkt als Kapital.
Er erhält im Lohn weniger als den Wert seines
Produkts, indem der Kapitalist den „Mehrwert"“
sich aneignet. Entsteht das Kapital auf diesem
Weg durch einen tatsächlichen Raub am Arbeiter,
so wächst es um so schneller bei Steigerung des
Mehrwerts durch Lohndrückerei, Verlängerung
der Arbeitszeit, Steigerung der Produktivität der
Arbeit. Die bei fortschreitender Technik in großen
Massen freigesetzten Arbeiter — industrielle Re-
servearmee — erleichtern den Kapitalisten die
Ausbeutung. Je größer der Reichtum der Kapi-
talisten, um so mehr wächst das Elend des Pro-
letariats.
Marx fällt hier aus der Rolle, menn er ein
moralisches Urteil über die Kapitalbildung spricht,
von Ausbeutung der Arbeiter u. dgl. redet. Hätte
er sich ferner damit begnügt, darzulegen, wie die
Sozialismus.
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Ausbeutung eine häufige und verwerfliche Er-
scheinung im Erwerbsleben sei, wie die Lage des
englischen Arbeiters seinerzeit eine fortschreitende
Verelendung erkennen ließ, niemand außer den
Interessenten hätte ihm widersprochen. Aber die
sozialistische Tendenz forderte ein allgemeines
Urteil; es mußte nachgewiesen werden, daß mit
dem Wesen der auf Eigentum an den Produktions=
mitteln begründeten Gesellschaftsordnung die Aus-
beutung untrennbar verbunden, die fortschreitende
Verelendung der Arbeitermassen somit eine natur-
notwendige sei. Dazu benutzt er die von Adam
Smith schwankend, von David Ricardo und
andern liberalen Okonomisten ohne Einschränkung
vorgetragene Lehre, daß die Arbeit als die einzige
Ouelle der Wertbildung zu gelten habe. Der
Tauschwert enthält kein Atom Gebrauchswert.
Die gesellschaftliche, bei einem gegebenen Stand der
Technik usw. notwendige Arbeit, gemessen durch
die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, bestimmt
den Tauschwert der Ware, auch der Ware „Ar-
beitskraft". Sind 6 Stunden notwendig, um die
Güter zu produzieren, deren der Arbeiter zu seiner
Erhaltung bedarf, so stellen diese 6 Stunden in
Geld ausgedrückt den Tauschwert der Arbeitskraft,
den Lohn des Arbeiters dar. Aber der Arbeiter
ist 10, 12, 14 Stunden tätig in der Produktion
von Waren, der Gebrauchswert der Arbeitskraft
für den kapitalistischen Unternehmer höher als ihr
Tauschwert, als der Lohn, den der Arbeiter
empfängt. So entsteht und wächst das Kapital,
indem dem Arbeiter jener Mehrwert, den er durch
harte und lange Arbeit erzeugt, vorenthalten wird.
Der Empiriker Marx beweist diese von ihm ver-
vollständigte Werttheorie — a priori, ver-
mittelst eines Trugschlusses. Der Erfahrung, den
tatsächlichen Verhältnissen gegenübergestellt, mußte
ja allerdings die Hinfälligkeit einer solchen Lehre
ohne weiteres zutage treten. Viele Beispiele
zeigen, daß Werte entstehen oder wachsen können
ohne auf ihre Herstellung verwendete körperliche
Arbeit, daß Werte gemessen werden eben auch nach
der Güte und Brauchbarkeit der Waren, daß die
Leitung des Geschäfts von großem und entschei-
dendem Einfluß auf die Wertbildung ist usw. Und
wie sollte man mittels des lediglich quantitativen,
dazu noch sehr abstrakten und praktisch unfaßbaren
Maßstabs der „gesellschaftlich notwendigen Ar-
beitszeit“ qualitativ sehr verschiedene Waren und
Leistungen unter dem einheitlichen Gesichtspunkt
des Werts vergleichen können? Unglaubliche Nai-
vität bekundet es, wenn ein Vielfaches der Arbeits-
zeit bei qualifizierter Arbeit zur Bestimmung des
Werts eben dieser Qualitätsarbeit für ausreichend
gehalten wird. Die größte Schwierigkeit aber be-
reitete den Marxisten das sog. „Durchschnitts-
profiträtsel“. War die Wert= und Mehrwert-
theorie richtig, so mußte in einem Unternehmen
mit mehr „variablem“ Kapital (verwendet auf
Lohnzahlung für eine größere Arbeiterzahl) der
Mehrwert größer sein als in einem andern Unter-