Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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nehmen, in welchem ein in sich gleich großes, aber 
mehr als „konstantes“ (für Maschinen usw.) ver- 
wendetes Kapital sich vorfindet. Dem widerstritt 
die Tatsache, daß Kapitalien von gleicher Größe 
den gleichen Profit abwerfen ohne Rücksicht auf 
ihre organische Zusammensetzung. Die (von Engels) 
in Aussicht gestellte, aber mehr und mehr hinaus- 
geschobene Lösung der Schwierigkeit bestand schließ- 
lich in der tatsächlichen Preisgabe der Marxschen 
Werttheorie und in dem Rückzug auf eine ganz 
gewöhnliche Produktionskostentheorie. Heute wird 
die Werttheorie in der Marxistischen Formulierung 
von vielen Parteigenossen der Sozialdemokratie 
ausdrücklich als wissenschaftlich unhaltbar auf- 
gegeben. Bernstein und seine Anhänger, die sog. 
Revisionisten, gestehen offen und unumwunden 
ein, daß die politische und ökonomische Lage der 
Arbeiter sich in den letzten Zeiten sehr gehoben 
habe — der „naturnotwendigen“ Verelendung 
zum Trotz. 
Ebensowenig entspricht die sog. Akkumula- 
tions= und Konzentrationstheorie der 
Wirklichkeit. Wenn auf Marxistischer Seite be- 
hauptet wurde, die maschinelle Überlegenheit des 
Großbetriebs führe unabweisbar zur Vernichtung 
des mittleren und kleinen Betriebs, und innerhalb 
der unter sich konkurrierenden Kapitalisten siege 
unbedingt das größere Kapital, so handelt es sich 
dabei um eine ganz einseitige Ubertreibung gewisser 
tatsächlich auf industriellem und merkantilem Ge- 
biet in die Erscheinung tretenden Tendenzen, die 
niemals zur vollen Auswirkung gelangen, zum 
Teil wieder abgelenkt werden und keineswegs als 
Vorbereitung einer umfassenden Vergesellschaftung 
der Produktionsmittel gelten können. Für die 
Landwirtschaft zunächst besteht überhaupt kein 
Akkumulationsgesetz. Hier wächst die Konkurrenz= 
fähigkeit durchaus nicht mit der Größe des Be- 
triebs. Im Gegenteil fordert eine erfolgreiche 
Bebauung des Bodens die individuelle Behand- 
lung des einzelnen Ackers, und von einer guten 
Viehpflege kann nur da die Rede sein, wo die 
Zahl der Stücke sich in mäßigen Grenzen hält. 
Aber selbst auf gewerblichem, industriellem Gebiet 
findet die Akkumulationstendenz schon jetzt gewisse 
Schranken und Korrekturen. Wir sehen da Groß-, 
Mittel= und Kleinbetriebe nebeneinander bestehen. 
Das Gesamtbild ändert sich kaum, wenn auch 
einzelne Betriebsklassen aussterben. Daß aber das 
Gesamtbild das gleiche bleibe, erklärt sich aus der 
wachsenden Differenzierung, Anpassungsfähigkeit 
und Beweglichkeit der gewerblichen Welt. Als 
Marrxistische Schimäre weist darum Bernstein — 
einst selbst Marxist — die Lehre von der „natur- 
notwendig“ sich vollziehenden Konzentration des 
Kapitals zurück. 
Gegen die Annahme periodischer (etwa alle zehn 
Jahre sich wiederholender) Krisen („Krisen= 
theorie“) spricht zunächst die ihr als Voraus- 
setzung dienende, aber als irrig erwiesene Behaup- 
tung einer fortschreitenden Verminderung der 
Sozialismus. 
  
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Konsumtionsfähigkeit der Arbeitermassen. Über- 
dies kann man Bernstein beipflichten, wenn er 
sagt, der Kreis der Industrien und ihrer Märkte 
sei heute zu groß, um an allen Punkten gleich- 
zeitig und mit gleicher Schwere getroffen werden 
zu können. Aber mag immerhin eine derartige 
universale Krisis, die den Übergang in die sozia- 
listische Gesellschaftsordnung einleiten könnte, nicht 
zu erwarten sein, so bleiben die — freilich nicht 
in der prophezeiten Regelmäßigkeit sich wieder- 
holenden — Krisen ein bedenkliches Krankheits- 
symptom innerhalb der gegenwärtigen Ordnung 
der Dinge. Dieselben auf das Privateigentum 
an den Produktionsmitteln zurückführen wollen 
ist eine rein willkürliche petitio principii. Die 
Schuld liegt nicht am Eigentum, sondern an den 
Eigentümern oder an gesellschaftlichen Verhält- 
nissen und Einrichtungen, die auf dem Weg der 
Reform, ohne Beseitigung der Eigentumsinsti- 
tution, einer Verbesserung fähig sind. Die An- 
archie der Produktion ist eben kein „naturnotwen- 
diger“ Zustand. Sie überwinden wollen durch 
die Tyrannei des sozialistischen Zukunftsstaats 
wäre ein ebenso aussichtsloses Unternehmen, wie 
es töricht ist, heute das Heil bloß in einer maß- 
losen Entwicklung der Produktivkräfte und in der. 
forcierten Ausdehnung des äußern Markts ohne 
Rücksicht auf Dauer und Sicherheit des Absatzes 
nach außen und die innere Konsumtionsfähigkeit 
des eignen Landes zu suchen. 
Hat die Akkumulation des Kapitals auf der einen 
Seite, das Elend der Arbeiterschaft auf der andern 
Seite den Höhepunkt erreicht — so behaupten die 
Sozialisten weiter —, dann bricht die bürgerliche 
Gesellschaft zusammen, das Proletariat ergreift 
die politische Gewalt (proletarische Diktatur) und 
verwandelt die den Händen der Kapitalisten ent- 
gleitenden Produktionsmittel in gesellschaftliches 
Eigentum. Ja, wenn das sich so leicht arrangieren 
ließe, wie man die rote Schärpe umhängt! In 
dem ersten Wirrwarr schon ginge der Zukunfts- 
staat elendiglich zugrunde, weil keine menschliche 
Zentralgewalt der Aufgabe einer solchen Neu- 
ordnung unübersehbar komplizierter Verhältnisse 
gewachsen wäre. Mit Recht bezeichnet Bern- 
stein die ganze „Zusammenbruchstheorie“ als 
utopistisch, die Idee von einem totalen Zusammen- 
bruch des kapitalistischen Systems vermöge seiner 
eignen Widersprüche als „durchaus nebelhaft". 
Ihm gilt als nächste Aufgabe die Sicherung 
immer besserer Existenzbedingungen für die Ar- 
beiterklasse durch Erringung eines wachsenden 
Einflusses auf die Gesetzgebung und das ganze 
öffentliche Leben. Das ist die „Bewegung“, die 
Bernstein mehr wert ist als das kommunistische 
Ziel. Wenn aber Bernstein „die allseitige Durch-- 
führung der Genossenschaftlichkeit“ als das Ge- 
sellschaftsprinzip der Zukunft erklärt, wenn er und 
sein Anhang, gebildet aus den „Intelligenzen“ 
der sozialdemokratischen Partei, eine mehr refor- 
merische Richtung vertritt, so betrachtet er doch
	        
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