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noch die sozialistische Gesellschaftsordnung als das
ferne Endziel der geschichtlichen Bewegung. Frei-
lich bezweifelt er wieder, ob überhaupt alle In-
dustrien die Gestalt von öffentlichen Diensten an-
nehmen können. Zu baachten bleibt ferner, daß
die „Reform“ innerhalb der gegenwärtigen Ge-
sellschaftsordnung im Sinn der Bernsteinschen
Richtung naturgemäß einen staats-oder gemeinde-
sozialistischen Charakter an sich tragen müßte.
Das Marristische System ist ebenso unpsycho-
logisch wie alle früheren sozialistischen, kommu-
nistischen und anarchistischen Theorien. Vor allem
brachte die Lehre von der „naturnotwendig“ fort-
schreitenden Verelendung es nicht zuwege, daß
die Parteianhänger auf eine durchgreifende Ver-
besserung in der Lage der Arbeiter verzichteten —
um so weniger, da der offene Widerspruch zwischen
dem Dogma von der „naturnotwendigen Ent-
wicklung“ einerseits und der freien Tätigkeit des
Proletariats zum Zweck seiner Emanzipation in
den verschiedenen, die Taktik betreffenden Streit-
fragen immer klarer zutage trat.
Auf das, was K. Marx und die neueren und
neuesten sozialistischen Theoretiker bezüglich des
positiven Inhalts der kollektiven Organisations-
form der menschlichen Gesellschaft der Zukunft
sagen, können wir nicht weiter eingehen. Es ist
allgemein und nichtssagend genug oder wahn-
witzig-phantastisch, wie Bebels Utopie. Nach dem,
was wir über die Zukunftsträume eines Fourier,
der St--Simonisten usw. gesagt, würde es eine
unnütze Raumverschwendung sein, über Phanta-
stereien zu berichten, die im wesentlichen doch
ganz auf das hinauslaufen, was die älteren So-
zialisten als ihr Ideal bezeichnet und ausgemalt
haben. Es bleibt immer der eine Hauptpunkt
ungelöst, wie die Hindernisse, welche die mensch-
liche Natur mit ihrem berechtigten und unbe-
rechtigten Egoismus, ihrer Liebe zu Besitz und
Gewinn, ihrem Ehrgefühl, Ehrgeiz und Neid
der Realisierung einer auf Gesamteigentum und
gemeinschaftlicher Produktion aufgebauten Gesell-
schaftsordnung entgegensetzt, beseitigt werden sollen.
Wer die Geschichte der Menschheit ohne Vorein-
genommenheit betrachtet, kann nicht Anhänger der
Rousseauschen Theorie von der angebornen Voll-
kommenheit der menschlichen Natur sein. Fällt
aber diese Theorie, so ist auch das Schicksal der
sozialistischen Zukunftsträume besiegelt.
Man führe den „Zukunftsstaat“ nur ein! Das
rasche Anwachsen der Bevölkerung ist dann gewiß,
das Wachsen des Produktionserfolgs mehr als
fraglich, der Quotient zwischen Ertrag und Be-
völkerung überaus ungünstig. Da hätten wir in
der Tat eine fortschreitende Verelendung, wie die
Welt sie noch nicht gesehen! Aber das Elend
dauerte nicht lange. Dieselben Leute, die den Zu-
kunftsstaat gebaut, würden ihn in kurzer Zeit
niederreißen. Eine Verteilung nach dem „Be-
dürfnis“, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit
der Leistungen und des Fleißes erträgt keine Ge-
Sozialismus.
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ellschaft auf die Dauer. Und doch wäre diese
schreiende Ungerechtigkeit der kommunistischen Ge-
ellschaft wesentlich, weil die Verteilung nach Ver-
dienst die kommunistische Gleichheit wieder auf-
heben müßte (vgl. hierüber Cathrein, Der Sozia-
lismus I101910) 347 ffl.
Wenn eine so unhaltbare Lehre wie der Sozia-
lismus so viele Anhänger gefunden, so hat das
seinen Grund in der in weiten Kreisen der Halb-
gebildeten und des Volks verbreiteten Erbitterung
über die bestehenden Zustände. Die bestehende Un-
zufriedenheit ist teilweise durch wirtschaftliche Not-
stände und Mißverhältnisse erklärlich, teilweise aber
nur auf die neidische Gesinnung und den unge-
zügelten Drang nach materiellem Genuß zurückzu-
führen, wie sie Leuten ohne Glauben und alle
Hingabe an übersinnliche Ideale eigentümlich zu
sein pflegt. Sie wird mächtig gefördert durch die
wohlorganisierte Hetzarbeit der sozialistischen Füh-
rer, die durch Wort und Schrift betrieben wird,
den Leidenschaften schmeichelt und den gedanken-
losen, materialistisch gesinnten Massen das Blaue
vom Himmel verspricht. Der eigentliche Sozialis-
mus unserer Tage ist denn auch durchaus reli-
gionsfeindlich. Die Phrase, Religion sei
als Privatsache den einzelnen zu überlassen, ist
eitel und unwahr. Sämtliche sozialistischen Führer
stehen nicht nur dem Christentum, sondern selbst
dem Glauben an einen persönlichen, die Welt re-
gierenden Gott feindlich gegenüber.
Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der So-
zialismus auf materialistischer Grundlage ruht
und mit der menschlichen Natur im Widerspruch
steht, indem er das Privateigentum an den Pro-
duktionsmitteln sowie die berechtigte Unabhängig-
keit der einzelnen auf dem Gebiet der wirtschaft-
lichen Tätigkeit im wesentlichen bekämpft, wenn
man ferner bedenkt, daß er die Erziehung den
Eltern fast ganz abnimmt, sie religionslos und zur
Sache der öffentlichen Tätigkeit macht, daß die
freie Tätigkeit der Kirche bei der Durchführung
einer solchen Organisation unmöglich wäre, daß
diese Durchführung, um es mit einem Wort zu
sagen, an die Stelle des zwar an Kämpfen, Leiden
und ÜUbeln reichen, aber auch dem Guten weitesten
Spielraum verstattenden und an Lichtseiten wahr-
lich nicht armen Lebens der Menschheit, wie es sich
auf der Basis der nun jahrtausendealten be-
stehenden Gesellschaftsordnung abspielt, die Ein-
förmigkeit des Zuchthauses setzen würde, so kann
man sich leicht ein Urteil darüber bilden, welche
Stellung die Kirche zu den sozialistischen Theo-
rien einnimmt und einnehmen muß. Sie ver-
wirft dieselben gänzlich und unbedingt. Sie hätte
das übrigens gar nicht ausdrücklich zu tun brau-
chen. Der Widerspruch dieser Irrlehren gegen die
Lehren des wahren Christentums ist ja einleuch-
tend. Papst Leo XIII. hat aber auch auf diesem
Gebiet seine autoritative Stimme erhoben. Er
hat sich schon in seiner Enzyklika Quod apo-
stolici muneris vom 28. Dez. 1878, ganz