Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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dem weiteren Begriff Sozialreform, wenn auch 
der gewöhnliche Sprachgebrauch diese beiden Be- 
zeichnungen häufig in gleichem Sinn nebenein- 
ander anwendet. Anderseits hat es die Sozial- 
politik auch nicht lediglich mit der Arbeiterfrage 
zu tun; allerdings hat sie auf dem Gebiet der 
letzteren vielleicht ihre wichtigsten und schwierigsten 
Aufgaben zu erfüllen, und deshalb wird, wie 
unter sozialer Frage (im engeren Sinn) vielfach 
allein die Arbeiterfrage, so unter sozialpolitischer 
Gesetzgebung meist in erster Linie die Arbeiter- 
schutz= und Versicherungsgesetzgebung verstanden; 
neuerdings findet der Ausdruck sozial jedoch auch 
auf Gesetzgebung für die andern Stände mehr 
und mehr seine Anwendung. 
Das Gebiet der Sozialpolitik reicht jedoch 
weiter. Es umfaßt zunächst alle gesetzgeberischen 
und Verwaltungsmaßnahmen, welche speziell 
den Schutz und die Förderung der wirtschaftlich 
Bedrängten in einzelnen Erwerbsständen sowie 
die soziale und kulturelle Hebung der unteren Ge- 
sellschaftsschichten und des Volks überhaupt zum 
Ziel haben. In dieser Hinsicht ist Sozialpolitik 
ein besonderer Teil der Volkswirtschaftspolitik, 
wie z. B. die Finanz= oder die Verkehrspolitik. 
Auch damit ist indes das Gebiet der Sozialpolitik 
nicht erschöpft. Wie sich die soziale Frage in allen 
Lebensverhältnissen geltend macht, so muß die 
Sozialpolitik alle Zweige staatlicher Tätigkeit 
durchdringen; in der Steuerpolitik z. B. soll nicht 
nur nach finanziellen, sondern auch nach sozial- 
politischen Erwägungen verfahren, daher auf tun- 
lichste Schonung der wirtschaftlich Schwächeren 
Bedacht genommen werden. Sozialpolitik in diesem 
weitesten Sinn ist also eine Politik, welche von 
einer sozialen (im Gegensatz zur individualen) An- 
schauungsweise ausgeht und ihre Maßnahmen nach 
der Wirkung auf alle sozialen Schichten, nicht 
auf das Individuum oder eine einzige soziale 
Schicht beurteilt und einrichtet. 
Vor allem ist indes noch die Frage zu beant- 
worten: hat der Staat, d. h. haben Gesetzgebung 
und Verwaltung überhaupt das Recht und die 
Pflicht, in die Gestaltung der wirtschaftlichen und 
sozialen Verhältnisse einzugreisen, und wie weit 
geht dieses Recht des Staats? Man muß 
zwischen zwei Extremen die richtige Mitte finden, 
zwischen dem liberalen Prinzip der absoluten 
Nichtintervention des Staats in wirtschaftlichen 
Dingen und der absolutistischen staatlichen 
Bevormundung oder gar staatssozialistischen Be- 
herrschung des Wirtschaftslebens. Die rechte Mitte 
zwischen diesen beiden Extremen hat Papst Leo XIII. 
besonders in seiner Enzyklika Rerum novarum 
vom 15. Mai 1891 unübertrefflich bezeichnet. Der 
Papst stellt dem liberalen Prinzip der unbedingten 
Nichtintervention des Staats den unwiderleglichen 
Grundsatz entgegen, daß nichts den Staat seinem 
Wesen nach näher angehe, als das Gemeinwohl 
zu fördern. Das Gemeinwohl hänge aber vor 
allem von dem Wohl der zahlreichsten, unentbehr- 
Sozialpolitik. 
  
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lichsten und schutzbedürstigsten Menschenklasse, der 
arbeitenden Klasse ab. Diese sei daher wenig- 
stens in ihren natürlichen Menschenrechten vom 
Staat zu schützen, soweit dieselben unter den 
modernen industriellen Verhältnissen bedroht sind 
und die Arbeiter dabei des gesetzlichen Schutzes 
bedürfen. Es ist daher Recht und Pflicht der 
staatlichen Gewalt, der arbeitenden Klasse die 
naturnotwendige körperliche und geistige Ruhe 
durch entsprechende Gesetze über die Sonntags- 
ruhe und durch gesetzliche Beschränkung der Ar- 
beitszeit zu sichern, das leibliche und sittliche Wohl 
der arbeitenden Klasse zu schützen durch Reglung 
oder Verbot der Frauen= und Kinderarbeit, die 
Gesundheit, die Sittlichkeit und das Leben der 
arbeitenden Klasse zu schützen durch entsprechende 
staatliche Aufsicht, und selbst eventuell in die Lohn- 
verhältnisse einzugreifen, wenn die Löhne allgemein 
und dauernd unter das Niveau des zum Leben 
Notwendigen zu sinken drohen. 
Hat so die Enzyklika über die Arbeiterfrage 
das Prinzip der absoluten Nichtintervention des 
Staats in wirtschaftlichen Dingen verworfen, so 
ist sie doch anderseits weit davon entfernt, einer 
absolutistischen Beherrschung des Wirtschafts- 
lebens, wie es vor der Revolution unter dem ab- 
solutistischen Königtum sich ausgebildet hatte, das 
Wort zu reden. Immer wieder betont der Papst, 
daß die staatliche Gewalt nur da und so weit ein- 
greifen soll, als die Selbsthilfe versagt und sich 
als unzureichend erweist, um die Arbeiter in ihren 
natürlichen Menschenrechten zu schützen. Am deut- 
lichsten tritt dies bei der Lohnfrage zutage. Die 
Enzyklika schließt es nicht aus, daß der natur- 
rechtliche Minimallohn unter Umständen behörd- 
lich fixiert werde. Dennoch ist dieselbe weit davon 
entfernt, einer direkten staatlichen Einmischung in 
die Lohnverhältnisse das Wort zu reden. „Da- 
mit aber in diese (Lohnfrage) und ähnliche Fragen“, 
erklärt sie im Anschluß an das über den staatlichen 
Arbeiterschutz und die Lohnfrage Gesagte, „wie 
diejenige der täglichen Arbeitszeit für die ver- 
schiedenen Arbeitsarten und diejenige der Schutz- 
maßregeln gegen Gesundheitsgefahr und Unfälle, 
zumal in Fabriken, die öffentliche Gewalt sich 
nicht in ungehöriger Weise einmische, so erscheint 
es in Anbetracht der Verschiedenheit der zeitlichen 
und örtlichen Umstände durchaus ratsam, jene 
Fragen vor die Ausschüsse zu bringen, von denen 
wir weiter nachher handeln werden, oder einen 
andern Weg zur Vertretung der Interessen der 
Arbeiter einzuschlagen, je nach Erfordernis unter 
Mitwirkung und Leitung der Behörden.“ Ganz 
entschieden verurteilt die Enzyklika im ersten Teil, 
wie den radikalen Sozialismus, so auch den 
eigentlichen Staatssozialismus als einen unberech- 
tigten und gewaltsamen Eingriff in die persönliche 
Freiheit und in das natürliche Recht des Privat- 
eigentums an Grund und Boden wie an Pro- 
duktionsmitteln überhaupt. Dem Staatssozialis- 
mus gegenüber betont die Enzyklika, daß der 
 
	        
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