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dem weiteren Begriff Sozialreform, wenn auch
der gewöhnliche Sprachgebrauch diese beiden Be-
zeichnungen häufig in gleichem Sinn nebenein-
ander anwendet. Anderseits hat es die Sozial-
politik auch nicht lediglich mit der Arbeiterfrage
zu tun; allerdings hat sie auf dem Gebiet der
letzteren vielleicht ihre wichtigsten und schwierigsten
Aufgaben zu erfüllen, und deshalb wird, wie
unter sozialer Frage (im engeren Sinn) vielfach
allein die Arbeiterfrage, so unter sozialpolitischer
Gesetzgebung meist in erster Linie die Arbeiter-
schutz= und Versicherungsgesetzgebung verstanden;
neuerdings findet der Ausdruck sozial jedoch auch
auf Gesetzgebung für die andern Stände mehr
und mehr seine Anwendung.
Das Gebiet der Sozialpolitik reicht jedoch
weiter. Es umfaßt zunächst alle gesetzgeberischen
und Verwaltungsmaßnahmen, welche speziell
den Schutz und die Förderung der wirtschaftlich
Bedrängten in einzelnen Erwerbsständen sowie
die soziale und kulturelle Hebung der unteren Ge-
sellschaftsschichten und des Volks überhaupt zum
Ziel haben. In dieser Hinsicht ist Sozialpolitik
ein besonderer Teil der Volkswirtschaftspolitik,
wie z. B. die Finanz= oder die Verkehrspolitik.
Auch damit ist indes das Gebiet der Sozialpolitik
nicht erschöpft. Wie sich die soziale Frage in allen
Lebensverhältnissen geltend macht, so muß die
Sozialpolitik alle Zweige staatlicher Tätigkeit
durchdringen; in der Steuerpolitik z. B. soll nicht
nur nach finanziellen, sondern auch nach sozial-
politischen Erwägungen verfahren, daher auf tun-
lichste Schonung der wirtschaftlich Schwächeren
Bedacht genommen werden. Sozialpolitik in diesem
weitesten Sinn ist also eine Politik, welche von
einer sozialen (im Gegensatz zur individualen) An-
schauungsweise ausgeht und ihre Maßnahmen nach
der Wirkung auf alle sozialen Schichten, nicht
auf das Individuum oder eine einzige soziale
Schicht beurteilt und einrichtet.
Vor allem ist indes noch die Frage zu beant-
worten: hat der Staat, d. h. haben Gesetzgebung
und Verwaltung überhaupt das Recht und die
Pflicht, in die Gestaltung der wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnisse einzugreisen, und wie weit
geht dieses Recht des Staats? Man muß
zwischen zwei Extremen die richtige Mitte finden,
zwischen dem liberalen Prinzip der absoluten
Nichtintervention des Staats in wirtschaftlichen
Dingen und der absolutistischen staatlichen
Bevormundung oder gar staatssozialistischen Be-
herrschung des Wirtschaftslebens. Die rechte Mitte
zwischen diesen beiden Extremen hat Papst Leo XIII.
besonders in seiner Enzyklika Rerum novarum
vom 15. Mai 1891 unübertrefflich bezeichnet. Der
Papst stellt dem liberalen Prinzip der unbedingten
Nichtintervention des Staats den unwiderleglichen
Grundsatz entgegen, daß nichts den Staat seinem
Wesen nach näher angehe, als das Gemeinwohl
zu fördern. Das Gemeinwohl hänge aber vor
allem von dem Wohl der zahlreichsten, unentbehr-
Sozialpolitik.
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lichsten und schutzbedürstigsten Menschenklasse, der
arbeitenden Klasse ab. Diese sei daher wenig-
stens in ihren natürlichen Menschenrechten vom
Staat zu schützen, soweit dieselben unter den
modernen industriellen Verhältnissen bedroht sind
und die Arbeiter dabei des gesetzlichen Schutzes
bedürfen. Es ist daher Recht und Pflicht der
staatlichen Gewalt, der arbeitenden Klasse die
naturnotwendige körperliche und geistige Ruhe
durch entsprechende Gesetze über die Sonntags-
ruhe und durch gesetzliche Beschränkung der Ar-
beitszeit zu sichern, das leibliche und sittliche Wohl
der arbeitenden Klasse zu schützen durch Reglung
oder Verbot der Frauen= und Kinderarbeit, die
Gesundheit, die Sittlichkeit und das Leben der
arbeitenden Klasse zu schützen durch entsprechende
staatliche Aufsicht, und selbst eventuell in die Lohn-
verhältnisse einzugreifen, wenn die Löhne allgemein
und dauernd unter das Niveau des zum Leben
Notwendigen zu sinken drohen.
Hat so die Enzyklika über die Arbeiterfrage
das Prinzip der absoluten Nichtintervention des
Staats in wirtschaftlichen Dingen verworfen, so
ist sie doch anderseits weit davon entfernt, einer
absolutistischen Beherrschung des Wirtschafts-
lebens, wie es vor der Revolution unter dem ab-
solutistischen Königtum sich ausgebildet hatte, das
Wort zu reden. Immer wieder betont der Papst,
daß die staatliche Gewalt nur da und so weit ein-
greifen soll, als die Selbsthilfe versagt und sich
als unzureichend erweist, um die Arbeiter in ihren
natürlichen Menschenrechten zu schützen. Am deut-
lichsten tritt dies bei der Lohnfrage zutage. Die
Enzyklika schließt es nicht aus, daß der natur-
rechtliche Minimallohn unter Umständen behörd-
lich fixiert werde. Dennoch ist dieselbe weit davon
entfernt, einer direkten staatlichen Einmischung in
die Lohnverhältnisse das Wort zu reden. „Da-
mit aber in diese (Lohnfrage) und ähnliche Fragen“,
erklärt sie im Anschluß an das über den staatlichen
Arbeiterschutz und die Lohnfrage Gesagte, „wie
diejenige der täglichen Arbeitszeit für die ver-
schiedenen Arbeitsarten und diejenige der Schutz-
maßregeln gegen Gesundheitsgefahr und Unfälle,
zumal in Fabriken, die öffentliche Gewalt sich
nicht in ungehöriger Weise einmische, so erscheint
es in Anbetracht der Verschiedenheit der zeitlichen
und örtlichen Umstände durchaus ratsam, jene
Fragen vor die Ausschüsse zu bringen, von denen
wir weiter nachher handeln werden, oder einen
andern Weg zur Vertretung der Interessen der
Arbeiter einzuschlagen, je nach Erfordernis unter
Mitwirkung und Leitung der Behörden.“ Ganz
entschieden verurteilt die Enzyklika im ersten Teil,
wie den radikalen Sozialismus, so auch den
eigentlichen Staatssozialismus als einen unberech-
tigten und gewaltsamen Eingriff in die persönliche
Freiheit und in das natürliche Recht des Privat-
eigentums an Grund und Boden wie an Pro-
duktionsmitteln überhaupt. Dem Staatssozialis-
mus gegenüber betont die Enzyklika, daß der