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Mensch und die Familie ihre natürlichen Rechte
nicht vom Staat haben, vielmehr die Grundlage
und Voraussetzung des Staats bilden, daß die
Menschen nicht des Staats wegen da sind, son-
dern der Staat der Menschen wegen. — Die
Grundsätze, welche die Enzyklika hier mit Bezug
auf die Arbeiterfrage ausstellt, gelten selbstver-
ständlich auch für die sozialpolitischen Aufgaben
des Staats gegenüber andern Ständen.
Lange und schwere Kämpfe hat es gekostet, bis
die sozialpolitischen Aufgaben in der Wirtschafts-
politik der einzelnen Staaten nach und nach zu
allgemeinerer Anerkennung und Inangriffnahme
gelangten. Was die Arbeiterfrage betrifft (s. d.
Art. Bd I. Sp. 275 ff), so war dieselbe in Eng-
land zwar schon seit dem Anfang des 19. Jahrh.
zum Gegenstand einer Fabrikgesetzgebung gemacht
worden, aber auf dem Kontinent, speziell in
Deutschland, gelang erst in den letzten Jahr-
zehnten eine entschiedene Durchbrechung des bis
dahin herrschenden Prinzips staatlicher Nichtinter-
vention. Da auch dem leitenden Staatsmann
des neugegründeten Deutschen Reichs möglichst un-
beschränkte Herrschaft des Unternehmers in seinem
Betrieb als der wünschenswerteste Zustand er-
schien, so war die deutsche Reichsgewerbegesetz
gebung — von kleineren Einschränkungen ab-
gesehen — anfänglich noch ganz vom Geist ab-
soluter Gewerbefreiheit beherrscht. Freilich konnte
man sich angesichts der wachsenden sozialen Un-
zufriedenheit, welche in den Fortschritten der
Sozialdemokratie zum Ausdruck kam, sowie unter
dem Druck der Propaganda des im Jahr 1872
von den sog. Kathedersozialisten (vgl. Art. Staats-
sozialismus) gegründeten Vereins für Sozial-
politik nicht der Notwendigkeit verschließen, daß
auch der Staat etwas Positives zur Förderung des
Wohls der Arbeiterklasse tue. Die Frucht dieser
Erwägung war dann zunächst die durch die kaiser-
liche Botschaft vom 17. Nov. 1881 eingeleitete
Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung der 1880er
Jahre, mit welcher das Deutsche Reich allerdings
den Vorrang unter allen Kulturstaaten erwarb.
Aber für einen staatlichen Schutz des Arbeiterstan-
des im Rahmen der Gewerbegesetzgebung, also durch
gesetzliche Vorschriften über die Arbeitszeit und d
sonstigen Arbeitsverhältnisse innerhalb der Ge-
werbebetriebe waren Regierung und einflußreiche
Kreise damals noch nicht zu haben.
An Bemühungen, eine Arbeiterschutzgesetzgebung
anzubahnen, hatte es jedoch schon seit längerer
Zeit nicht gefehlt. Vor allem war dieses Ziel von
katholischer Seite mit Eifer verfolgt worden. Der
Mainzer Bischof Wilh. Emanuel v. Ketteler,
welcher seit 1848 auf die Bedeutung der sozialen
Frage hingewiesen, wirkte durch seine 1864 er-
schienene Schrift „Die Arbeiterfrage und das
Christentum“ geradezu bahnbrechend. v. Ketteler
richtete auch bestimmte sozialpolitische Forderungen
an die Gesetzgebung, so in seiner berühmten, auf
der Liebfrauenheide bei Offenbach a. M. vor
Sozialpolitik.
1274
Arbeitern gehaltenen Ansprache („Die Arbeiter-
bewegung und ihr Streben im Verhältnis zu
Religion und Sittlichkeit“), ferner in einem 1873
veröffentlichten Entwurf eines Programms für die
deutschen Katholiken. Er forderte unter anderem
Verkürzung der Arbeitszeit, Sonntagsruhe, Ein-
schränkung der Frauen-, Mädchen= und Kinder-
arbeit; auch betonte er das Recht der Arbeiter auf
Koalitionsfreiheit. Neben v. Ketteler befaßte sich
eine Reihe angesehener katholischer Männer, wie
Moufang, Haffner u. a., mit sozialpolitischen
Fragen, und die bezüglichen Anregungen fanden
im katholischen Deutschland, in der Presse wie in
den Generalversammlungen (besonders seit der
Frankfurter Generalversammlung von 1863), bald
lebhafte Unterstützung. Wenn gleichwohl die
Zentrumsfraktion nicht alsbald nach ihrer Grün-
dung mit sozialpolitischen Forderungen an die
Gesetzgebung herantrat, so lag die Schuld vor-
nehmlich an den kirchenpolitischen Kämpfen, welche
zunächst ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch
nahmen. Ludwig Windthorst hat in seinen parla-
mentarischen Reden bei den Kulturkampfdebatten
wiederholt bitter darüber geklagt, daß die Regie-
rung und ihre Parteien im Kampf gegen die katho-
lische Kirche alle Kräfte anspannten, anstatt ge-
meinsam mit der Kirche den immer dringlicher
werdenden sozialen Aufgaben sich zu widmen. Ein
positives sozialpolitisches Vorgehen des Zentrums
jetzt schon, so äußerte Windthorst einmal im Jahr
1874, würde zum Schaden der ersten und höchsten
Aufgabe des Zentrums, des Schutzes von Reli-
gion und Kirche, die Isolierung des Zentrums
nur noch verschärfen. Die Kirche frei zu machen,
sei aber auch für die sozialen Aufgaben das zu-
nächst Wichtigste, denn sie sei dabei unentbehr-
lich. Außerdem würde die jetzt in den protestan-
tischen Volkskreisen weithin noch bestehende und mit
Eifer genährte Aufregung und Abneigung gegen
Katholizismus und Zentrum dazu benutzt wer-
den, eine positive soziale Tätigkeit, welche das
Zentrum vertrete, sogar an sich zu diskreditieren,
und einem Erfolg jener dadurch nur schaden. So-
bald aber in diesen Beziehungen die Lage besser
sei, müsse sofort sozialpolitisch vorgegangen wer-
en, und er werde ganz gewiß mit dabei sein
(J. Wenzel, Arbeiterschutz und Zentrum 21. Über
Windthorsts Stellung zur Sozialpolitik vgl. na-
mentlich auch seine Reden im Reichstag vom
21. Mai 1886 und 23. Jan. 1890). Als sich
dann die Zentrumsfraktion im Jahr 1877 zur
Einbringung eines sozialpolitischen Antrags, des
ersten umfassenden, entschloß (Antrag Galen vom
19. März 1877), zeigte es sich, wie richtig Windt-
horst die Sachlage beurteilt hatte. Denn dieser
Antrag begegnete bei den übrigen Parteien und
der Regierung dem schärfsten Widerspruch, viel-
fach sogar offenem Hohn und Spott. Die Re-
gierung ließ erklären, daß der Antrag, welcher
unter anderem Sonntagsruhe, Beschränkung der
Frauen= und Kinderarbeit, Erweiterung der