Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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dern mit neuen Kräften und Zielen erfüllt. Und 
den Lohnarbeitern, die vier Fünftel unseres Volks 
zählen, glaubt man das Recht und die Freiheit, 
im Rahmen des Gesetzes und der Ordnung auf 
dem Weg der Selbsthilfe in Berufsvereinen und 
Genossenschaften ihre Lage zu verbessern, ver- 
kümmern zu können? Solange dies der Fall ist, 
fehlt der Sozialreform in Deutschland die tiesste 
Wirkung. Wahrhaft befreiend kann sie nur sein, 
wenn der Sozialversicherung und dem Arbeiter- 
schutz die Erweiterung und Sicherung des Koali- 
tionsrechts der Arbeiter zur Seite tritt“ (E. Francke, 
Soziale Praxis XI, Nr 36). 
Auch die Enzyklika Rerum novarum sieht in 
der berufsgenossenschaftlichen Organisation der 
Arbeiter den Hauptteil der Lösung der Arbeiter- 
frage. „In einer Zeit, wie der unsrigen“, sagt 
Leo XIII., „mit ihren geänderten Lebensgewohn- 
heiten können natürlich nicht die alten Innungen 
in ihrer ehemaligen Gestalt wieder ins Leben ge- 
rufen werden; die neuen Sitten, der Fortschritt 
in Wissenschaft und Bildung, die gesteigerten 
Lebensbedürfnisse, alles stellt andere Anforde- 
rungen. Aber es ist notwendig, das Korporations- 
wesen unter Beibehaltung des alten Geistes, der es 
belebte, den Bedürfnissen der Gegenwart anzu- 
passen.“ Darum empfiehlt die Enzyklika so sehr 
die Arbeitervereinigungen und fordert für die- 
selben nicht nur staatliche Anerkennung, sondern 
auch gesetzlichen Schutz und Korporationsrechte. 
In dieser Richtung haben sich auch stets die For- 
derungen bewegt, welche vor allem von der deut- 
schen Zentrumspartei seit Jahren an die Gesetz- 
gebung gestellt werden; dieselben zur Anerkennung 
und vollen Durchführung zu bringen, wird für 
die Zukunft eine wichtige sozialpolitische Aufgabe 
bilden. (Über die Einzelheiten der Arbeitergesetz- 
gebung Deutschlands und über die Entwicklung 
derselben in den außerdeutschen Staaten vgl. d. 
Artt. Arbeiterschutz Bd I. Sp. 312 ff, Arbeiter- 
versicherung Bd I, Sp. 317 ff, Arbeitskammern 
Bd I. Sp. 326 ff, Gewerkvereine Bd II, Sp. 
742 ff.) 
Die tiefgehenden Wandlungen im wirtschaft- 
lichen und sozialen Leben, die sich in den letzten 
Jahrzehnten vollzogen, mußten aber auch in stei- 
gendem Maß ein sozialpolitisches Eingreifen zu- 
gunsten anderer bedrängter Erwerbs- 
stände bzw. einzelner Schichten derselben als 
notwendig erscheinen lassen. So entstanden gesetz- 
geberische Maßnahmen zur Förderung der Land- 
wirtschaft, insbesondere zur Hebung des kleinen 
und mittleren Bauernstands (aus letzter Zeit sind 
zu nennen das Viehseuchengesetz 1909, das Wein- 
gesetz 1909) und zur Besserung der Landarbeiter- 
verhältnisse (vgl. d. Artt. Agrargesetzgebung Bd 1, 
Sp. 116 ff und Landarbeiter Bd III, Sp. 668 ff), 
ferner Maßnahmen zum Schutz und zur Kräftigung 
des Mittelstands in Handel und Gewerbe gegen- 
über der vordringenden Konkurrenz des Groß- 
kapitals und Großbetriebs. Eine soziale Mittel- 
Sozialpolitik. 
  
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standspolitik fand aber in liberalen Kreisen vielfach 
noch schärfere Gegner wie der Arbeiterschutz, und 
so hat es auf dem genannten Gebiet ebenfalls 
langjähriger Bemühungen der Zentrumspartei und 
der Konservativen bedurft, bis die Regierungen 
von dem Standpunkt absoluter Gewerbefreiheit 
wieder entschiedener abrückten. Erst neuerdings 
bekennt sich auch die nationalliberale Partei zu 
einer gewissen sozialen Mittelstandspolitik. Was 
den Handwerkerstand betrifft, so gelang es im 
Deutschen Reich erst 1881, den Innungen wieder 
die Anerkennung als öffentlich-rechtliche Korpo- 
rationen zu verschaffen, und erst 1897 kam ein 
neues sog. Handwerkerschutzgesetz zustande, welches 
zwardiein Handwerkerkreisen seit Jahren vertretenen 
Forderungen auf Einführung des Befähigung:t= 
nachweises und der obligatorischen Innung nicht 
erfüllte, aber dem Handwerkerstand eine bessere 
Organisation und Berufsbildung ermöglichte. Vor 
allem bedeutet die Einrichtung von Handwerks- 
kammern einen erheblichen sozialpolitischen Fort- 
schritt (ogl. d. Artt. Handwerk Bd II, Sp. 1081 ff, 
Handwerkskammer Bd II, Sp. 1109 ff, Innung 
Bd II, Sp. 1378 ff). Die Wirkungen, die das 
Gesetz gezeitigt hat (vgl. hierüber Erhebungen des 
Kaiserl. Statist. Amts vom Jahr 1905, veröffent- 
licht 1908) sind als erfreulich zu bezeichnen. Ein 
weiteres Entgegenkommen gegenüber den Wünschen 
des Handwerks bedeuten die Gesetze betr. den 
sog. kleinen Befähigungsnachweis, in Kraft seit 
Okt. 1908 (nur derjenige darf Lehrlinge aus- 
bilden, der sich durch die Ablegung der Meister- 
prüfung das Recht dazu erworben hat), den Be- 
fähigungsnachweis für das Baugewerbe 1907, die 
Sicherung der Bauforderungen 1909. Dem Hand- 
werk kommt sodann noch eine Reihe weiterer Ge- 
setze zugute, die in erster Linie dem Schutz des 
kaufmännischen Mittelstands dienen sollen, so die 
Gesetze betr. Abzahlungsgeschäfte, Beschränkung 
des Hausierhandels, soweit derselbe bedenkliche 
Formen angenommen hatte, Bekämpfung des un- 
lautern Wettbewerbs, ferner manche Bestim- 
mungen des neuen Handelsgesetzbuchs und des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs. Erstrebt werden seitens 
des Handwerks vornehmlich noch gesetzliche Maß- 
nahmen bezüglich einer Umgrenzung der Begriffe 
Fabrik und Handwerk, einer Heranziehung der 
Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung 
in handwerksmäßigen Betrieben, Berücksichtigung 
des Handwerks bei der Vergebung öffentlicher Ar- 
beiten und Lieferungen, Einschränkung der Ge- 
fängnisarbeit. Speziell dem Schutz des selbstän- 
digen kaufmännischen Mittelstands dienen die in 
verschiedenen Bundesstaaten bestehenden Waren- 
haussteuergesetze, die Abänderung der Konkurs- 
ordnung vom Jahr 1898. 
In jüngster Zeit hat die sozialpolitische Gesetz- 
gebung auch begonnen, den kaufmännischen An- 
gestellten und dem immer mehr anwachsenden 
Stand der Privatbeamten überhaupt besondere 
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Von bestehenden 
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