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verbreitet. An Zeitschriften werden seitens des
Volksvereins herausgegeben: für die ländliche Ju-
gend „Jung Land“, für die Jugend mit fortge-
schrittener Bildung „Efeuranken“, für das haus-
wirtschaftliche und gewerbliche Bildungswesen
„Frauenwirtschaft“, für christliche Vereinsleiter
die „Präsides-Korrespondenz“, als volkswirtschaft-
liche Zeitschrift für die Gebildeten „Soziale
Kultur"“. In der umfassenden sozialpolitischen
Wirksamkeit des Volksvereins für das katbolische
Deutschland finden auch die sozialpolitischen Auf-
gaben und Aktionen der Zentrumsfraktion im Par-
lament ihre beste und nachhaltigste Unterstützung.
— Auf evangelischer Seite besteht eine solche aus
allen Ständen und Berufsklassen zusammengesetzte
und im Volk wurzelnde Vereinsorganisation mit
sozialpolitischen Zwecken nicht. Indes hat der all-
jährlich zusammentretende Evangelisch-so-
ziale Kongrefß die Aufgabe, die Bestrebungen
der auf evangelischem Standpunkt stehenden
Freunde der Sozialreform zusammenzufassen und
so den bezüglichen Forderungen an die Gesetzge-
bung und Verwaltung größeren Nachdruck zu geben.
§51 seiner Statuten lautet: „Der evangelisch-so-
ziale Kongreß hat sich zur Aufgabe gestellt, die
sozialen Zustände unseres Volks vorurteilslos zu
untersuchen, sie an dem Maßstab der sittlichen und
religiösen Forderungen des Evangeliums zu mes-
sen und diese selbst für das Wirtschaftsleben frucht-
barer und wirksamer zu machen als bisher.“ Mit-
gliederzahl 1910: 1600, Organ: „Evangelisch-
Sozial“. In gewissem Sinn kann alsein Gegenstück
zur Zentralstelle des Volksvereins für das katho-
lische Deutschland die Soziale Geschäftsstelle
für das evangelische Deutschland gelten,
sofern sie einen Teil der Aufgaben verfolgt, die
sich der Volksverein gestellt hat. Die Geschäftsstelle
ist eine Zusammenfassung von Vereinen mit
262.000 Mitgliedern.
In einer Reihe von Staaten des Auslands
bestehen ebenfalls neben den zur Förderung der
speziellen Standes-oder Berufsinteressen gebildeten
Vereinigungen umfassendere Vereinsorganisatio-
nen sozialpolitischen Charakters, ähnlich, wenn auch
mit zum Teil wesentlichen Unterschieden wie der
Volksverein für das katholische Deutschland. In
Osterreich ist nach dem Muster des Volksver-
eins für das katholische Deutschland zu Beginn
1909 der „Katholische Volksbund“ (Sitz Wien)
gegründet worden mit dem Zweck der Belehrung,
Aufklärung und Schulung des katholischen Volks
auf apologetischem, sozialem und wirtschaftlichem
Gebiet. Organ: „Der Volksbund“. Der Schwei-
zerische Katholische Volksverein wurde 1904
errichtet durch Vereinigung des schweizerischen
Katholikenvereins mit den Verbänden der katho-
lischen Männer= und Arbeitervereine. Der Ver-
ein zählte 1909 in 465 Sektionen rund 50 000
Mitglieder. Die einzelnen Sektionen suchen das
Programm des Verbands insbesondere auch durch
tätiges Eingreifen in die kantonale und kommunale
Sozialpsychologie — Sozialwissenschaft.
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Sozialpolitik zu verwirklichen. Zeitschrift: „Der
Schweizerische Katholik“, Solothurn. Von den
übrigen Organisationen seien folgende angeführt:
Ungarn: Katholischer Volksverein (Budapest),
1910: 2330000 Mitglieder, Holland: Katho-
lieke Soziale Aktie (Leiden), England: Catho-
lic Social Guild (London), Frankreich: Action
populaire (Reims), Spanien: Accion Social
Popular (Barcelona), Italien: Unione popolare
(Florenz), Portugal: Volksverein (Torres Ve-
dras), Vereinigte Staaten: Zentralverein (St
Louis), Argentinien: Lega Social Argentinia
(Buenos-Aires), Brasilien: Katholischer Volks-
verein (Rio de Janeiro).
Literatur. E. Jörg, Geschichte der sozialpolit.
Parteien (1867); A. Weiß, Soziale Frage u. so-
ziale Ordnung (2 Bde, 1904); Frhr G. v. Hert-
ling, Naturrecht u. S. (1893); V. Cathrein, Mo-
ralphilosophie (2 Bde, ?1911); A. Lehmkuhl, Die
soziale Frage u. die staatl. Gewalt (71896); J.
Wenzel, Arbeiterschutz u. Zentrum, mit Berücksich-
tigung der übrigen Parteien (1893); derf., Ge-
werbliche Sonntagsruhe u. Zentrum mit Berück-
sichtigung der übrigen Parteien (1904); Herkner,
Die Arbeiterfrage (51908); A. Schäffle, Deutsche
Kern= u. Zeitfragen (1895); H. Pesch, Liberalis-=
mus, Sozialismus usw. (21901); J. Jastrow, S.
u. Verwaltungswissenschaft (1902); Meffert. Ar-
beiterfrage u. Sozialismus (1901); Biederlack, Die
soziale Frage (71907); Retzbach, Leitfaden für die
soziale Praxis (71910); van der Borght, Grund-
züge der S. (1904); Hitze, Die Arbeiterfrage
(1905); v. Wiese, Posadowsky als Sozialpolitiker
(1909); derf., Einführung in die S. (1910); This-
sen-Trimborn, Soziale Tätigkeit der Stadtgemein-
den (71909); v. Oertzen, Von Wichern bis Posa-
dowsky; Zur Geschichte der sozialen Reform u. der
christl. Arbeiterbewegung (21908); Wenck, Die Ge-
schichte u. Ziele der deutschen S. (1908). Über die
katholisch-sozialen Bestrebungen vgl. Liese im Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften III (81909)
387 ff. [Thissen, rev. van den Boom.)
Sozialpsychologie s. Sozialwissenschaft.
Sozialrecht s. Sozialwissenschaft.
Sozialversicherung s. Nachtrag am Ende
von Bd V.
Sozialwissenschaft. In der Literatur be-
gegnen wir ebensowohl dem Ausdruck Sozial-
wissenschaft, wie auch dem Wort Sozialwissen-
schaften. Zum Verständnis des Begriffs der beiden
Worte bedarf es der Zerlegung in ihre Elemente.
Was den Begriff der Wissenschaft angeht, so
pflegen wir ja auch ebensowohl von Wissenschaft
im allgemeinen, wie von Wissenschaften im ein-
zelnen zu sprechen. Das Wort Wissenschaft wenden
wir überall dort an, wo es sich um das methodische
Streben nach Erfassung der Wahrheit, wo es sich
um menschliche Erkenntnis des Seienden in seinen
grundlegenden Elementen und dem ursächlichen
Zusammenhang des Werdens handelt. Von Wis-
senschaften als Vielheit sprechen wir aber überall
dort, wo es sich um zielbewußte Forschung durch
die Anwendung der allgemeinen Grundsätze wahr-