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heitserstrebender Erkenntnisbetätigung auf einem
einzelnen Gebiet des Seienden handelt.
Schwieriger ist unzweifelhaft die Feststellung
des Begriffs Sozial, wie er in der Gegenwart
in den mannigfachsten Verbindungen und in zahl-
reichen Literaturwerken zur Anwendung kommt.
Das Wort „Sozial“ ist ebenso, wie das Wort
„Sozialistisch“ von dem lateinischen Wort so-
cius — der Genosse abzuleiten. Beide Ausdrücke
sind aber streng zu unterscheiden. Sozialistisch ist
alles das zu nennen, was sich auf jenes volkswirt-
schaftliche System bezieht, welches erfahrungsgemäß
und tatsächlich eine Uberführung der Arbeitsmittel
in Gemeineigentum erstrebt. Sozial ist aber das-
jenige zu nennen, was 1) sich auf den Menschen
als Gesellschaftswesen bezieht, 2) was das tatsäch-
liche Verhältnis des einzelnen Menschen zu mensch-
lichen Gruppen oder der Menschheit im ganzen
betrifft, 3) was einen harmonischen Ausgleich
zwischen den Interessen des einzelnen und der Ge-
samtheit herbeizuführen, sowie 4) was die Wohl-
fahrt des einzelnen in der Gesellschaft und durch
die Gesellschaft zu erstreben geeignet erscheint.
Da die bedeutsamste Gruppierung der Menschen
in staatlichen Verbänden erfolgt, so steht natur-
gemäß der Begriff sozial in engster Beziehung zu
dem Begriff der staatlich-politischen Zusammen-
fassung der Menschen. Wir sehen dies schon —
um nur eins hervorzuheben — an dem Wandel,
welchen im Lauf der Zeit jene Wissenschaft er-
fahren hat, welche einstmals als Sammlung der
dem Verwaltungsbeamten dienlichen Kenntnisse
Kameralwissenschaft hieß, dann die Benennung
Staatswissenschaft erfuhr und heute als ein Teil
der Sozialwissenschaft betrachtet wird. Damit
stimmt auch überein, wenn Wasserrab eine drei-
fache Grundbedeutung des Worts „Sozial“ an-
nimmt, nämlich: 1) gesellschaftlich und staatlich-
politisch, 2) gesellschaftlich in Gegenüberstellung
zu staatlich-politisch, 3) auf bestimmte Teile der
Gesellschaft und des Gesellschaftslebens bezüglich,
namentlich Volksgliederung, Gesellschafts= bzw.
Wirtschaftsorganisation und Gruppen-wie Klassen-
leben, mit besonderer Berücksichtigung der wirt-
schaftlich schwächeren Volksklassen, daher auch ar-
beiterfreundlich, woneben noch der Sinn verkehrs-
gesellig zu erwähnen ist.
Legen wir, entsprechend dem Gesagten, die Be-
griffe „gesellschaftsbildend und gesellschaftserhal-
tend“ dem Wort „Sozial“ zu Grunde, so hat man
zur Sozialwissenschaft im engeren Sinn
des Worts die allgemeine Gesellschaftswissenschaft
oder Soziologie zu zählen. Es ist die Lehre
von den grundlegenden Entwicklungsregeln und
wesentlichen Erscheinungsformen der aus der
menschlichen Natur sich ergebenden und daher er-
fahrungsgemäß im menschlichen Gemeinschafts-
leben stetig wiederkehrenden Wechselbeziehungen
zwischen Einzelwesen untereinander oder zwischen
diesen und Menschengruppen, sowie zwischen den
letzteren untereinander. Ihre wichtigste Hilfswissen-
Sozialwissenschaft.
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schaft ist die Sozialpsychologie, welche jene
Seelenzustände zu erforschen hat, die auf Grund
des individuellen Trieblebens im menschlichen Ge-
meinschaftsleben, infolge der Wechselbeziehungen
zwischen Individuum und Gesamtheit, in Indi-
viduum und Masse entstehen. Die Soziologie im
genannten Sinn ist gleichbedeutend mit Sozial-
philosophie und in einem System der Philo-
sophie neben Kosmologie, Psychologie, Anthropo-
logie einzuordnen, umfassend die Statik als
empirischen Teil und die Dynamilk als die Lehre
von den treibenden Kräften.
Sofern aber auf den harmonischen Ausgleich
widersprechender Interessen der Individuen und
Gruppen in der Gesellschaft durch gesetzgeberische
Maßnahmen hingewirkt werden kann, ist auch die
Sozialpolitik neben der Soziologie der So-
zialwissenschaft im engeren Sinn einzugliedern.
Als Grundlage der Sozialpolitik kommt sodann
die Soziallehre zur Erforschung des Bevölke-
rungsstandes, insbesondere die Erforschung der
Zustände und Verhältnisse der verschiedenen Be-
völkerungsschichten, sowohl an sich wie in ihren
Beziehungen zueinander in Betracht. Die Sozial-
lehre und Sozialpolitik stehen zueinander in dem
Verhältnis, daß erstere als Realwissenschaft mit
empirischer Betrachtung oder auch als theoretischer
Teil und Grundlegung der Sozialpolitik ange-
sprochen werden kann. Die Sozialpolitik aber ist
als Idealwissenschaft oder als der praktische Teil
zu betrachten, als die Lehre von der Gestaltung
der Gesellschaftsverhältnisse behufs Herbeiführung
der Wohlfahrt des Einzelnen und der Gruppen
in den schutzbedürftigen Schichten der Bevölkerung,
insofern jene Wohlfahrt nicht durch alleinige
Selbsthilfe zu erreichen ist.
Als dritter Teil der Sozialwissenschaft im
engeren Sinn dürfte dann die Statistik als die
Lehre von der zahlenmäßigen Erfassung der Ver-
hältnisse der Gesellschaft in Betracht kommen. Sie
zerfällt in einen allgemeinen theoretischen Teil,
welcher besonders auch die Frage des Werts zahlen-
mäßiger und meßbarer Beobachtungen und die
technischen Methoden zur Durchführung von
Massenbeobachtungen darzulegen hat, und einen
praktischen Teil, welcher die Ergebnisse der nach
Maß und Zahl gewonnenen Beobachtungen des
Gesellschaftslebens, insbesondere die Ergebnisse
der Bevölkerungs-, Moral-, Bildungs-, Wirt-
schafts= und politischen Statistik umfaßt (v. Mayr).
Da die Ausgestaltung der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse von so außerordentlicher Bedeutung für
die Volkswohlfahrt ist, hat man sich gewöhnt,
auch das ganze Gebiet der Wissenschaft vom Wirt-
schaftsleben, also die allgemeine und besondere
Nationalökonomie, in den Bereich der Sozial-
wissenschaft zu ziehen. Da ferner die Verhältnisse
der Menschen nur auf Grundlage einer Rechts-
ordnung eine Gewähr für den Bestand der Gesell-
schaft bieten und der Staat die beste Gewähr für
die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung gibt, so