Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1291 Soziologie 
pflegt man auch in das Bereich der Sozial- 
wissenschaften im weiteren Sinn des 
Worts die Wissenschaft vom Staat im Sinn der 
staatlichen Verwaltungslehre hineinzuziehen. Wie 
man sich immer mehr mit dem Erstarken des so- 
zialen Gedankens der Erforschung der Verantwor- 
tung der Individuen gegenüber der der Gesellschaft 
und umgekehrt der letzteren gegenüber den Indi- 
viduen in allen ihren Verzweigungen widmet und 
durch gesetzliche Maßnahmen die Fürsorge für die 
schwächeren Bevölkerungsschichten durchzuführen 
sucht, sind gleichzeitig zwei besondere Gebiete der 
Sozialwissenschaften in der Entwicklung begriffen, 
es ist die Sozialethik und das Sozialrecht. 
Die Sozialethik ist aber naturgemäß nur als ein 
Teil der Rechtsphilosophie zu betrachten, jener 
Teil nämlich, welcher sich mit den natürlichen Be- 
ziehungen der Menschen zueinander zu befassen hat. 
Bei der stetigen Ausgestaltung unserer sozialen 
Gesetzgebung wird sich aber das Sozialrecht all- 
mählich zu einer besondern wissenschaftlichen Diszi- 
plin entfalten, und es ist wiederholt, sowohl im 
Parlament wie in der Literatur, aus die Notwendig- 
keit der Schaffung besonderer Lehrstühle für So- 
zialrecht hingewiesen worden. 
Literatur. v. Scheel, in dem Abschnitt über 
politische Okonomie als Wissenschaft, in Schönbergs 
Handbuch der politischen Okonomie 1 (11896); 
Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirt- 
schaftslehre (71908); Oppenheimer, Theorie der 
reinen u. politischen Okonomie (1910); Simmel, 
Soziologie (1908); v. Mayr, Begriff u. Gliede- 
rung der Staatswissenschaften (31910); Wasser- 
rab, S. u. soziale Frage (1900); ders., Soziale 
Frage, Sozialpolitik u. Carität (1903); Stillich, 
Zweck u. Bedeutung der S.en (1908); Pesch, Lehr- 
buch der Nationalökonomie I1 u. II (1905/09). 
LFaßbender.) 
Soziologie s. Gesellschaft und Gesellschafts- 
wissenschaft. 
Spanien. I. Geschichte. Die politische Ein- 
heit Spaniens wurde angebahnt durch die Ver- 
einigung der Kronen von Aragonien und Kastilien 
infolge der Heirat Ferdinands und JIsabellas 
(1469); beide Staaten hatten schon vorher eine 
Reihe kleinerer Staaten in sich ausgenommen, Ara- 
gonien außerdem 1229 die Balearen, 1282 Si- 
zilien erobert. Die Eroberung Granadas 1492 
und Obernavarras 1512 gaben dem Reich seine 
natürlichen Grenzen. Die Vereinigung war zu- 
nächst nur eine Personalunion; beide Staaten 
behielten ihre eignen staatlichen Institutionen, so 
ihre, freilich selten mehr berufenen Cortes (Stände) 
bis zum Spanischen Erbfolgekrieg. Doch wurden 
allmählich kastilische Sprache und Denkweise, ka- 
stilische Einrichtungen und Gewohnheiten maß- 
gebend für ganz Spanien. Anderseits waren die 
Kastilier wegen ihres Stolzes und ihrer Herrsch- 
sucht verhaßt. Namentlich die Basken, Aragonier 
und Katalanen verschmerzten den Verlust ihrer 
Selbständigkeit nie; die Zentralisation von oben 
wurde oft mit Aufständen und Bürgerkrieg erwidert, 
— Spanien. 1292 
und der Regionalismus in Katalonien und der 
Karlismus in den baskischen Provinzen sind Nach- 
wirkungen bis auf die jüngste Zeit. 
Die besonders in Aragonien schon vorbereitete 
absolute Monarchie fand eine Stütze im Bund 
mit der Kirche. Die strenge Durchführung der 
Glaubensreinheit und Glaubenseinheit, die Ein- 
setzung der Inquisition, die Verschmelzung der Groß- 
meisterwürde der geistlichen Ritterorden mit der 
Krone förderten den Absolutismus, Karls I. Sieg 
über das Bürgertum 1521 vollendete ihn. Schon 
unter Ferdinand war Aragonien eine Großmacht 
und eroberte im Kampf gegen Frankreich 1503 das 
Königreich Neapel. Einen freilich von den Zeitge- 
nossen und vielfach heute noch weit überschätzten Zu- 
wachs an Macht und Mitteln erhielt Spanien durch 
die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt. 
Die Heirat der Thronerbin Johanna mit Philipp 
(1496), dem Erben der habsburgisch-burgundischen 
Länder, und der Gewinn der deutschen Kaiser- 
krone durch Karl I. (V., 1519) eröffneten die Aus- 
sicht auf eine habsburgisch-spanische Weltmon- 
archie. Spanien brachte diesem Traum, den die 
Widerstandskraft Frankreichs und die protestan- 
tische Bewegung in Deutschland schließlich zunichte 
machten, die schwersten Opfer an Geld und Blut. 
Auch Philipp II. (1556/98), der außer Spanien, 
Neapel, Sizilien und Sardinien noch Mailand 
und die Niederlande aus der habsburgischen Länder- 
masse erbte und durch den Kampf um die Wieder- 
herstellung des Katholizismus in Europa seiner 
Politik wenigstens einen großen Zug verlieh, be- 
1 hauptete äußerlich noch die Großmachtstellung 
seines Landes; 1580 gelang ihm noch die Er- 
oberung Portugals. Doch bezeichnen der Abfall 
der nördlichen Niederlande (1567) und der Ver- 
lust der Armada (1580) bereits den Niedergang 
der spanischen Macht, und im Innern steuerte das 
Land bereits dem Verfall zu. Von den Metall- 
schätzen Amerikas verblendet, ließ Spanien die 
wahren Quellen seines Wohlstands versiegen; das 
Gold, das ins Land floß, ging in den Aufgaben 
der hohen Politik auf und war kein Ersatz für die 
durch Auswanderung und Kriege verlorene Volks- 
kraft. Die ehrliche Arbeit wurde nicht geschätzt, 
die noch von den Araberzeiten her bewässerten 
Felder der kastilischen Hochebene wurden Latifun- 
dien des Adels und Schafweiden. Verhängnisvoll 
für die wirtschaftliche Kraft des Landes war auch 
die Austreibung der Mauren 1568/70, die unter 
Philipp III. (1598/1621) vollendet wurde. Unter 
Philipp IV. (1621/65) gingen 1640 Portugal, 
1659 Artois und Roussillon, unter Karl II. (1665 
bis 1700) 1679 die Franche-Comté verloren. 
Als 1700 die spanische Linie des Hauses Habs- 
burg erlosch, war das Land vollständig zerrüttet, 
verarmt und von der geistigen Höhe, die es ein 
halbes Jahrhundert vorher noch eingenommen 
hatte, herabgesunken. Immerhin war es für die 
Dynastien und die Westmächte noch ein wertvolles 
Kampfobjekt, schon wegen der Handelsinteressen in 
  
 
	        
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