Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1295 
Prim gestürzt. Man wollte keine Republik, fand 
aber erst Ende 1870 einen König in dem italie- 
nischen Prinzen Amadeus. Er trat die Regierung 
am 2. Jan. 1871 an, wurde ihrer aber bald müde 
und dankte 10. Febr. 1873 ab. Tags darauf 
wurde die Föderativrepublik ausgerufen. Die ein- 
zelnen Provinzen, die sich nun selbst regieren 
sollten, verfielen bald der Anarchie; schon 1872 
hatten sich die Karlisten im Norden wieder er- 
hoben, die aber auch diesmal nur in der Verteidi- 
gung stark waren, und so hatte man zugleich den 
Bürgerkrieg. Die Republik war unhaltbar; ohne 
daß sich Widerstand erhob, rief General Martinez 
Campos am 29. Dez. 1874 in Sagunto JIsabellas 
Sohn zum König aus, und am 14. Jan. 1875 
zog Alfons XII. in Madrid ein. 
Der jugendliche Herrscher war eine sehr sym- 
pathische Persönlichkeit und sein Ministerpräsident, 
Canovas del Castillo, der Führer der Konserva- 
tiven (wie die Moderados jetzt genannt wurden), 
ein geschickter Staatsmann, und so gelang es, die 
Monarchie zu sichern. Die neue, noch geltende 
Verfassung kam 30. Juni 1876 zustande; sie er- 
setzte das 1870 eingeführte allgemeine Wahlrecht 
durch einen Zensus, schaffte die Zivilehe wieder 
ab und erklärte die katholische Kirche als Staats- 
religion. Die Karlisten wurden 1876 unterworfen, 
die Sonderrechte (Fueros, hauptsächlich eignes 
Rechtswesen, Freiheit vom Militärdienst und ge- 
wissen Steuern) der baskischen Provinzen und 
Navarras aufgehoben und damit die Reichseinheit 
hergestellt. 1878 erhielt auch das von Martinez 
Campos unterworfene Kuba eine Vertretung im 
Parlament. In der äußern Politik schien sich 
Spanien an Deutschland und OÖsterreich anlehnen 
zu wollen, bis die Karolinenfrage 1885 einen 
Bruch der sich anbahnenden Freundschaft brachte. 
Alfons XII. starb schon mit 28 Jahren 1885. 
Für seinen nachgebornen Sohn Alfons XIII. 
führte seine Mutter Marie Christine, Erzherzogin 
von Osterreich, die Regentschaft mit konstitutio- 
neller Zurückhaltung und politischem Takt. An 
der Spitze des Ministeriums standen abwechselnd 
der Liberale Sagasta und der Konservative Cano= 
vas. Das parlamentarische Leben blieb auch nach 
Einführung des allgemeinen Wahlrechts (1890), 
für dessen Ausübung dem Volk die Bildung, das 
politische Interesse und die Wahlfreiheit fehlt, ein 
Possenspiel, vielmehr wechselte die Leitung der 
Geschäfte wie in Portugal in regelmäßigem Tur- 
nus zwischen den führenden Männern beider Par- 
teien. Doch genoß das Land wenigstens verhält- 
nismäßige Ruhe, wenn auch Putsche von anarchi- 
stischem, karlistischem oder militärischem Charakter 
nicht ganz fehlten. Ein Gewinn war es im Grunde, 
daß infolge des Aufstands auf Kuba und den 
Philippinen und des Kriegs mit den Vereinigten 
Staaten die Kolonien verloren gingen. Im Frie- 
den von Paris 10. Dez. 1898 mußte Spanien 
auf Kuba, Porto Rico und die Philippinen ver- 
zichten; seine Besitzungen in der Südsee, die Karo- 
Spanien. 
  
1296 
linen, Marianen und Palauinseln, verkaufte es 
1899 an Deutschland. Da die westafrikanischen 
Besitzungen gering und ziemlich wertlos sind, ist 
Spanien aus der Reihe der Kolonialmächte aus- 
geschieden. 
1902 wurde Alfons XIII. volljährig. Da die 
Liberalen seit Sagastas Tod 19083 zerfallen und 
regierungsunfähig waren, kamen meistens die Kon- 
servativen ans Ruder (1902/05 Ministerium 
Maura). Seit 1905 folgten mehrere liberale Ka- 
binette, zunächst Moret, der einen neuen schutz- 
zöllnerischen Zolltarif (in Kraft 1. Juli 1906) 
durchsetzte, dann Lopez Dominguez, der mit seinem 
Justizminister Graf Romanones eine kirchenfeind- 
liche Politik begann. Nachdem noch mehrere liberale 
Kabinette sich versucht hatten, trat Maura Jan. 
1907 wieder an die Spitze. Er nahm das Dekret 
Romanones“, der auf diesem Weg die fakultative 
Zivilehe auch für die Katholiken eingeführt hatte, 
zurück und bemühte sich ernstlich um Gesundung 
des politischen und sozialen Lebens. Neben der 
Sonntagsruhe, die er schon 1904 durchgesetzt 
hatte, sind namentlich zu erwähnen die Förderung 
der innern Kolonisation (Gesetz vom 30. Aug. 
1907), die der erschreckenden Auswanderung ent- 
gegenwirken sollte, der Bau von Straßen und 
Kleinbahnen und die Unterstützung der Handels- 
marine; auf politischem Gebiet das Gesetz über 
die Wahlpflicht (8. Aug. 1907), sein Vorgehen 
gegen den politischen Terrorismus der Gemeinde- 
beamten (Kazikismus) und seine nicht zur Erledi- 
gung gelangte Vorlage über Selbstverwaltung und 
Dezentralisation. Bei der Mobilmachung für den 
unpopulären Feldzug in Marokko brach Juli 1909 
in Barcelona und Katalonien ein Aufstand aus 
(hauptsächlich wegen des Privilegs, sich um 1500 
Pesetas vom Militärdienst loskaufen zu können), 
der revolutionären Charakter annahm und von 
Greueltaten gegen Geistliche und Ordensleute be- 
gleitet war. Einer der Anstifter, Ferrer, wurde 
am 13. Okt. erschossen. Die Haltung des Aus- 
lands, wo Ferrer als Freiheitsapostel und Opfer 
eines Justizmords gefeiert wurde, und das An- 
wachsen der republikanischen und sozialistischen 
Stimmen beunruhigten den König und ermutigten 
die Liberalen. Maura mußte Ende Okt. 1909 
zurücktreten. Es folgte wieder ein liberales Ka- 
binett Moret, im Febr. 1910 ein weiter links 
stehendes Kabinett Canalejas. Canalejas löste im 
April die seit Oktober nicht mehr berufene Kammer 
auf und schuf sich bei den Wahlen im Mai 1910. 
eine Mehrheit. 
Von den großen Reformen, die er im Unter- 
richts= und Steuerwesen, der sozialen Gesetzgebung 
und dem Heerwesen (allgemeine Wehrpflicht) an- 
kündigte, ging bisher nur die Progression der Erb- 
schaftssteuer, aber weder die Einkommensteuer noch 
die Erleichterung der drückenden Verbrauchssteuern 
durch. Mit desto größerem Eifer verlegte sich Cana- 
lejas auf die Kirchenpolitik. Daß eine Anderung 
der bisherigen Beziehungen zwischen Kirche und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.