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Religionsphilosophen des Mittelalters, einem ibn
Esra, Maimonides, Gersonides, Chasdar Kreskas,
strebte der Jüngling bald über das Getto hinaus
und suchte auch das moderne Wissen sich anzu-
eignen, zu dem die bei dem ehemaligen Jesuiten
Franz van den Ende erworbene Kenntnis des La-
teinischen ihm die Tür öffnete. In Mathematik
und Physik — den Wissenschaften, welche seit dem
16. Jahrh. dem ganzen wissenschaftlichen Denken
eine neue Richtung gaben — machte er sich hei-
misch; mit Philosophen der Renaissance, wie
mit dem Platoniker Leo Hebraeus und wohl auch
mit Giordano Bruno, wurde er bekannt, sowie
nicht minder mit der durch den Humanismus er-
neuerten Lehre der Stoa; ebenso mit einigen philo-
sophischen und theologischen Vertretern der Scho-
lastik, die auch im protestantischen Holland Pflege
fand. Weit mehr als diese aber fesselte ihn Des-
cartes durch seine Metaphysik und seine Natur-
philosophie. Man hat oft darauf hingewiesen, daß
der Substanzbegriff Spinozas — die Grundlage
seiner pantheistischen Weltanschauung — aus der
kartesianischen Definition erwachsen sei, die an die
Stelle des Für-sich-seins der aristotelisch-scholasti-
schen Definition das Aus= und Durch-sich-sein ge-
setzt habe — eine nur teilweise richtige Behaup-
tung, die in ihrer Ubertreibung weder dem Theisten
Descartes gerecht wird, noch die Vielheit der
psychologischen Entstehungsgründe von Spinozas
Pantheismus erkennen läßt. Auch Hobbes, der
den Mechanismus der Physik auf die Psychologie
und auf die Lehre vom Staat übertrug, gewann
einen bestimmenden Einfluß auf sein Denken; ob
schon damals oder erst später, möge — wie auch
hinsichtlich einzelner anderer eben genannter An-
regungen — auf sich beruhen. Durch die so ge-
nommene Entwicklung war Spinoza mit dem
Denken der Synagoge in Widerspruch geraten.
Am 27. Juli 1655 wurde er durch den großen
Bann aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen
und bald darauf aus Amsterdam verwiesen. Im
Dorf Ouwerkerke bei Amsterdam und dann in
Rijnsburg bei Leiden fand er im Kreis der „Kol-
legianten“ hilfsbereite Freunde, zu denen bald
auch solche aus dem verwandten Kreis der „Tauf-
gesinnten“ (Mennoniten) traten. Von dem un-
dogmatischen Christentum dieser aus der kalvi-
nischen Landeskirche ausgeschlossenen freien Ge-
meinden stand Spinozas eigne religiöse Stel-
lung zeitweilig nicht allzuweit ab, wenngleich im
Grund stets die Philosophie seine Religion war,
auch im Tractatus theologico-politicus, trotz
dessen Ausführungen über eine Offenbarung und
Christus als ihren Verkünder. — Der „Kurze
Traktat von Gott, dem Menschen und dessen
Glückseligkeit“ (eine nur in holländischer Über-
setzung erhaltene Vorarbeit zur „Ethik") und der
„Traktat über die Läuterung des Verstands“ sind
damals entstanden; ebenso die 1663 veröffent-
lichten „Prinzipien der kartesianischen Philosophie“
mit ihrem Anhang, den „Metaphysischen Ge-
Spinoza.
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danken" (beides in manchem nicht Spinozas eigent-
liche Meinung enthaltend). Von Rijnsburg begab
sich Spinoza nach Voorburg beim Haag. Hier
brachte er sein Hauptwerk, die „Ethik“, in die erste
Form und schrieb den „Theologisch-politischen
Traktat“ (erschienen 1670).— Die letzten Lebens-
jahre verbrachte er im Haag, fortwährend mit der
Vollendung der „Ethik“ beschäftigt, neben der er
eine hebräische Grammatik und den unvollendeten
„Politischen Traktat“ ausarbeitete. Der mündliche
und schriftliche Verkehr mit einer Reihe von Freun-
den brachte ihm Anregung und entschädigte ihn
für die mangelnde äußere Wirksamkeit. Abgesehen
von den mehr persönlichen und religiösen Be-
ziehungen zu den Kreisen der Kollegianten und
Mennoniten sind es, was für Spinozas ganze
Richtung bezeichnend ist, vor allem Naturforscher
und naturwissenschaftlich interessierte Philosophen,
die mit ihm in nähere Beziehung traten: der Arzt
Ludwig Meyer, der Sekretär der Royal Societ)y
in London Heinrich Oldenburg, ferner Walter
Tschirnhaus, Huygens u. a. Auch Leibniz suchte
ihn auf, der freilich bald abrückte und durch seine
Philosophie Spinoza wie Descartes zu über-
winden suchte. Für Spinozas Staatstheorie von
besonderem Einfluß waren seine freundschaftlichen
Beziehungen zu dem ihn beschützenden Staats-
mann Jan de Witt, der im Gegensatz zu der auf
die Monarchie lossteuernden und zugleich streng
kalvinischen oranischen Partei die Generalstaaten
als deren Staatssekretär im demokratischen Sinn
leitete (mochte jene „Demokratie“ auch durchaus
das Gepräge einer Notablen= und Beamten-
aristokratie tragen) und der religiösen Duldung
zuneigte. Als, erschreckt durch den Einfall der
Franzosen in das Land und aufgereizt durch die
oranische Partei, die, wohl nicht ganz mit Un-
recht, dem unkriegerischen Demokraten Schuld an
der militärischen Schwäche des doch von allen
Seiten bedrohten Landes gab, das Volk sich gegen
de Witt erhob und am 20. Aug. 1672 ein rasender
Pöbelhaufen die gefangen gesetzten beiden Brüder
de Witt auf die Straße schleppte und grausam
mordete, wollte Spinoza seinem Zorn und seiner
Entrüstung durch einen öffentlichen Anschlag Aus-
druck geben, und sein Hauswirt konnte ihn nur
dadurch, daß er die Haustür verschloß, vor dieser
Unbesonnenheit bewahren. Es ist oft vermutet,
daß diese Greuel einer entfesselten Meute auf die
leise Umbiegung der politischen Ansichten nicht
ohne Einfluß geblieben seien, die sich im un-
vollendeten „Politischen Traktat“ gegenüber dem
nur die Demokratie behandelnden Tractatus
theologico-politicus findet. — Im übrigen war
Spinozas Leben das eines stillen Gelehrten. Den
Lebensunterhalt erwarb er durch Schleifen opti-
scher Gläser, wozu Unterstützungen der Freunde,
auch eine kleine von de Witt erwirkte Pension,
traten. Einen Ruf des Pfalzgrafen Karl Ludwig
nach Heidelberg, der ihm volle Freiheit des Philo-
sophierens versprach, in der Erwartung, daß er