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in allem natürlichen Geschehen gibt es kein Sollen,
sondern nur ein Müssen. Eine normative Ethik
und eine normative Rechtslehre hat von diesem
Standpunkt des Weltgeschehens aus keinen Platz;
auf diesem absoluten Standpunkt gibt es überhaupt
keine Normen im eigentlichen Sinn, und darum
will Spinoza auch die menschlichen Handlungen
nicht verwünschen oder verlachen, sondern verstehen,
wie man die Eigenschaften der Linien, Flächen und
Körper nicht verwünscht oder verlacht, sondern
einzusehen trachtet (Eth. 3, prol.; Tr. pol. 1, 4).
Denn was die nach der Notwendigkeit des gött-
lichen Wesens sich entfaltende Natur tut, ist stets
gut. Wenn auch hierbei oftmals ein Einzelnes Hem-
mung und selbst Zerstörung auf Kosten eines
andern erfährt, so erhält sich doch im ganzen
überall die auf Selbstbehauptung gerichtete, un-
endliche Lebensfülle der Natur. Begreiflicherweise
findet in einem solchen Naturalismus die Idee
Gottes als des Allweisen, Allgütigen und Ge-
rechten, als des Grunds einer über allem Natur-
geshehen stehenden sittlichen Norm keine Stätte.
d doch sucht auch Spinoza, geleitet von an-
dern bei ihm gleichfalls wirksamen Denk= und
Gefühlsmotiven, diese niederdrückende mechanische
Weltansicht zu durchbrechen. Er beweist dadurch
ebensosehr das Unzulängliche seines Naturalis-=
mus — denn mit diesem sind jene ethischen und
religiösen Motive in Wahrheit nicht vereinbar —,
wie die Macht letztgenannter Elemente der Welt-
anschauung. Wenn nämlich Spinoza auch die
psychologische Freiheit in jeder Form in Abrede
stellt, so sucht er doch in der Notwendigkeit selbst
eine Art von Freiheit zu finden. Wenigstens von
dem außerhalb seines Wesens liegenden Zwang
ist der Geist befreit, wenn er den universalen
Kausalnexus in seiner Notwendigkeit begreift und
sich so auf das nach den Gesetzen seines Wesens
sich vollendende Ewige in ihm besinnt. Und ebenso
sucht Spinoza trotz seines Naturalismus doch für
Moral und Recht die Möglichkeit von Impera-
tiven zu gewinnen. Es ist das beides freilich nur
dadurch möglich, daß er jenen Standpunkt des
durchgängigen Naturalismus verläßt und statt
dessen von dem besondern Standpunkt des Men-
schen, aus der spezifischen Menschennatur heraus,
einen eigentümlichen men schlichen Wert, einen
Wertmesser menschlicher Vollkommenheit ab-
leitet. Diese Vollkommenheit besteht in der Über-
windung dessen, was passiv im Menschen ist, durch
die Aktivität des Geistes, in der Uberwindung der
Leidenschaft, d. h. der dunkeln und verworrenen
Bewußtseinszustände, deren Ursache nicht allein im
Menschen selbst liegt, durch die klare und deutliche
oder adäquate Erkenntnis. Denn wenn auch ein
Affekt nur durch einen andern Affekt besiegt werden
kann, so gehen doch aus der klaren und deutlichen
Erkenntnis eben jene ruhigen, geistigen Affekte
hervor, die das unruhige Gewühl der Leiden-
schaften besiegen. Vollendet wird diese Befreiung
von den knechtend haften durch die Gottes-
Spinoza.
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liebe (amor Dei intellectualis), in welche die
Erkenntnis des Zusammenhangs aller Dinge in
Gott ausmündet, und durch die Lust kraftvoller
Bejahung des geistigen, vernünftigen Lebens,
welche mit dieser Gottesliebe verbunden ist. So
ergibt sich als sittliches Ideal für Spinoza die
Überwindung der Leidenschaft durch die klare Er-
kenntnis. Er bleibt auch hier seinem erkenntnis-
theoretischen Rationalismus getreu, wenn er im
Menschen das Reich der Vernunft und des kraft-
vollen Vernunftlebens begründen will. — Gibt es
aber unter den Einzeldingen nichts Wertvolleres
als den Menschen, der von der Vernunft geleitet
wird, so gibt es auch für den einzelnen Menschen
wieder nichts, was ihm zur Entwicklung dieser
seiner Vernunft nützlicher wäre, als den selbst von
der Vernunft geleiteten Menschen (Eth. 4, ap-
pend. c. 9). Denn wenn der Mensch wahrhaft
von der Vernunft geleitet wird, so nützt er, indem
er seinen eignen Nutzen erstrebt, zugleich seinen
Mitmenschen am meisten (Eth. 4, 35, coroll. 2).
Von hier ist es nur ein Schritt bis zu der For-
derung, daß auch die menschliche Gemein-
schaft vernünftig geordnet sei, wenn sie inner-
halb der um Menschenwohl und Menschenwehe
unbekümmerten universellen Natur der Sonderart
des Menschen und seinem besondern Bedürfnis
gemäß sein soll. Damit sind wir zu Spinozas
Gesellschaftsphilosophie oder zu seiner Rechts- und
Staatsphilosophie gelangt.
III. Spinozas Staats= und Rechtsphi-
losophie hat eine erste Formulierung erhalten
in dem 1670 gedruckten Tractatus theologico-
politicus, continens dissertationes aliquot,
qduibus ostenditur, libertatem philosophandi
non tantum salva pietate et Reipublicae
pace posse concedi; sed eandem, nisi cum
pace Reipublicae ipsaque pietate tolli non
posse. Den besondern Zweck zeigt der weitschwei-
sige Titel an. Bibelkritische und staatsrechtliche
Untersuchungen sollen im Sinn de Witts einerseits
das staatliche ins circa sacra gegenüber der Be-
kämpfung desselben durch die Kirchen sicherstellen,
anderseits die Denk= und Lehrfreiheit als Ver-
nunftforderung begründen: also Toleranz nicht
gegenüber dem Kultus, wohl aber gegenüber den
religiösen und philosophischen Meinungen. —
Schon in diesem Tractatus theologico-politi-
cus ist die naturrechtliche Konstruktion unter die
Gesichtspunkte der „Ethik“ gestellt, an der Spi-
noza damals bereits arbeitete. In der „Ethik“
selbst gibt er dann eine kurze, aber alles Wesent-
liche umfassende Grundlegung seiner Lehre vom
Naturzustand und vom bürgerlichen Zustand des
Menschen (Eth. 4, 37, schol. 2). Ausführlich
entwickelt er diese Lehre noch einmal in dem un-
vollendeten Tractatus politicus; in quo de-
monstratur, qduomodo Societas, ubi imperium
Monarchicum locum habet, sicut et en, ubi
Optimi imperant, debet institui, ne in Ty-
rannidem labatur, et ut Pax Libertasque