Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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von praktischer bürgerlicher Toleranz überhaupt ge- 
sprochen werden kann, suchte gegenüber den ihm 
feindlich gesinnten Predigern der kalvinischen 
Staatskirche das schon von Oldenbarneveldt und 
von verschiedenen Kirchenordnungen und Resolu- 
tionen (1591, 1617) aufgestellte staatliche Ent- 
scheidungsrecht in kirchlichen Angelegenheiten durch- 
zuführen und fand hierin die Unterstützung einer 
tätigen Publizistik: Pieter und Johan de la 
Court (van den Hove), Lodewijk Meyer, Lambert 
van Velthuysen u. a. — auch der Leviathan von 
Hobbes wurde 1667 ins Holländische übersetzt —. 
So erklärt es nun auch Spinoza als eine selbst- 
verständliche Folgerung aus dem durch den Staats- 
vertrag begründeten staatlichen Oberhoheitsrecht 
(ius ad omnia), daß dem Staat nicht nur das 
bürgerliche, sondern auch das religiöse Hoheitsrecht 
(eius Sacrum, ius circa sacra) zustehe (Tr. theol.- 
pol. 16 u. 18; Tr. pol. 3, 10). Nicht schon die 
natürliche oder prophetische Offenbarung (Spinoza 
akkommodiert sich hier), sondern erst der mit der 
Befehlsgewalt bekleidete Staat erläßt „Befehle“ 
(mandata) und interpretiert das göttliche Recht (Tr. 
theol.-pol. 19, p. 595). Die religiöse Gemeinschaft 
wird daher nach Spinoza zum Rechts institut 
erst durch den allein ein Recht begründenden Staat. 
Erst durch diesen werden Gerechtigkeit und Liebe, 
deren Herrschaft den Frieden der Gesellschaft be- 
dingt und darum Lebensbedingung des Staats 
ist (ebd. 14) und deren Erfüllung als Gottes- 
gebote das „Reich Gottes“ (regnum Dei) aus- 
macht, zu einer Gesetzes pflicht. Demnach gibt 
es denn auch ein „Reich Gottes“ als Rechtsinsti- 
tut nach Spinoza, der hier wieder Hobbesschen 
Gedanken folgt, nur im Staat (ebd. 19, p. 593). 
Damit ist zugleich die Staatskirche in der 
schroffsten Form gefordert: „Staatskirche“ natür- 
lich nicht im Sinn der vom Staat beschützten und 
von ihm als seine Norm anerkannten Kirche, son- 
dern in dem entgegengesetzten, in welchem das 
Wort die volle Herrschaft des Staats und der 
Staatsbehörden auch in geistlicher Beziehung be- 
deutet. Alles Recht, „geistliche Angelegenheiten zu 
verwalten, Kirchendiener zu erwählen, die Ver- 
fassung und die Lehre der Kirche (ecclesiae fun- 
damenta eiusque doctrinam) zu bestimmen und 
zu sichern, über das sittliche und religiöse Ver- 
halten ein Urteil zu fällen, jemand aus der Kirche 
auszuschließen oder in sie aufzunehmen, sowie Be- 
stimmungen über die Armenpflege zu treffen“, 
geht allein aus dem Auftrag oder doch aus der 
Zulassung des Staats hervor (Tr. theol.-pol. 19, 
p. 598). Missionstätigkeit verwirft Spinoza dar- 
um (Tr. pol. 3, 10); das Verfahren der Hol- 
länder in Japan findet seine volle Billigung (Tr. 
theol.-pol. 5, p. 439; 16, p. 563). Er selbst 
denkt als Inhalt einer staatlich zu sanktionierenden 
Vernunftreligion, gleich der religion civile Rous- 
seaus (vgl. oben Sp. 735), wohl die sieben Sätze, 
die er im Tractatus theologico-politicus (14, 
p. 541) als Dogmen des „tatholischen oder all- 
Spinoza. 
  
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gemeinen Glaubens" anführt. — Freilich ist hier- 
bei zu bemerken, daß Spinoza jene Forderung in 
dieser schroffsten Form nur für die Demokratie er- 
hebt. Für die Monarchie, deren Einrichtung nach 
seiner Meinung aber mehr im Interesse der Knech- 
tung als des Friedens liegt (Tr. pol. 6, 4), 
wünscht er im Tractatus politicus im Interesse 
der Freiheit eine gewisse Trennung von Staat und 
Kirche (ebd. 6, 40). In der Aristokratie will er 
ebendort neben den Kirchen der Staatsreligion 
Betsäle für die andern Religionsgemeinschaften zu- 
lassen, verlangt aber, daß wenigstens die Patrizier 
den im theologisch-politischen Traktat aufgezählten 
Dogmen der allgemeinen Vernunftreligion zugetan 
seien (ebd. 8, 46). 
Das staatliche Hoheitsrecht — und hier setzt das 
entgegengesetzte Motiv in Spinozas Staatsphilo- 
sophie ein (Tr. theol.-pol. 7, p. 479; 19/20; 
Tr. pol. 3, 8/10) — gilt indes nur hinsichtlich 
der äußern Gottesverehrung (externus cultus). 
Nur die äußere Bezeigung der Frömmigkeit und 
die äußere Geltung der Dogmen läßt sich er- 
zwingen; nicht die innere Gesinnung und die 
innere Meinung. Oder von anderer Seite be- 
trachtet: während die Religionsorganisation 
bei Spinoza Sache des Staats ist, soll die in- 
dividuelle Freiheit des Denkens und Lehrens 
gewahrt bleiben, vorausgesetzt, daß in diesem 
Denken und Lehren nicht Handlungen ent- 
halten sind, durch welche die Grundlagen des 
Staats zerstört werden. 
Hinsichtlich der innern Gesinnung und der in- 
nern Meinung scheitert der Zwangsversuch des 
Staats; darum hört mit der Macht auch das 
Recht auf. Auch ist es unmöglich, daß jemand sein 
natürliches Vermögen und das in diesem Ver- 
Mmögen liegende Recht, selbst vernünftige Schlüsse 
zu ziehen und selbst zu urteilen, auf jemand anders 
überträgt; es kann daher die Aufgabe dieses Rechts 
in keinem Staatsvertrag enthalten sein. Da die 
durch die Vernunft gewonnene Weltanschauung 
Philosophie ist, so ergibt sich zugleich das Recht 
auf Freiheit des vom Staat unbehinderten Phi- 
losophierens (philosophandi libertas: Tr. 
theol.pol. 20, p. 606). — Eine bloß innere 
Denkfreiheit würde nun auch wohl zu Spinozas 
Zeit kaum von einem Vertreter der unbedingten 
staatlichen Allgewalt geleugnet sein. In Wirklichkeit 
liegt es auch Spinoza nicht so sehr an dieser, als 
an dem Recht auf freie Außerung der Gedanken, 
also auf die zu der Den kfreiheit hinzukommende 
Lehrfreiheit (libertas dicendi et docende). 
Hier versagt nun im Grund die prinzipielle De- 
duktion bei Spinoza. Zwar weist er darauf hin, 
daß es nicht nur dem Gelehrten, sondern ebenso 
dem Mann aus dem Volk natürlich sei, das, was 
er denkt, kundzutun (Tr. theol.pol. 20, p. 603), 
und reiht damit die freie Gedankenäußerung unter 
die ursprünglichen und darum unaufgebbaren Be- 
standstücke der menschlichen Natur ein; aber er 
muf doch zugeben, daß der Staat diese Meinungs-
	        
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