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äußerung durch Strafen und Drohungen zu hin-
dern die Macht und darum — nach seinen
eignen Prinzipien — auch das Recht hat. Freilich
ist eine solche die Rede= und Lehrfreiheit unter-
drückende Regierung eine „Gewaltherrschaft" (im-
Perium violentum, im Gegensatz zum imperium
moderatum: ebd.). Aber vom Standpunkt der
auf seiner Metaphysik aufgebauten Rechtsprin-
zipien aus kann Spinoza hier nicht viel ausrichten.
So zieht er denn moralische und Zweckmäßig-
keitsgründe heran. Das Verbot, seine Meinung
frei zu äußern, würde zur Unwahrhaftigkeit führen
(p. 606) und zum Schaden des Vaterlands viele
zur Auswanderung veranlassen (p. 608). Um-
gekehrt führe die Toleranz (das Wort tole-
rantia dafür noch nicht bei Spinoza; tolerantia
p. 606 heißt Fähigkeit, Leiden zu ertragen) zur
Blüte des Staats, wie das Beispiel des duldsamen
Amsterdam beweise (p. 609).
Übrigens ist auch Spinoza nicht für eine un-
bedingte Rede= und Lehrfreiheit. Aufrührerische
Meinungen, die gegen die Voraussetzungen des
Staatsvertrags verstoßen, sollen nicht geduldet
werden; denn diese seien nicht bloße Meinungen,
sondern schlössen als Bruch des Staatsvertrags
eine Handlung ein (p. 605 #).
Während Spinozas Metaphysik, insbesondere
sein Pantheismus und seine Auffassung von Leib
und Seele, bis auf die Gegenwart von weitest
reichender Wirkung war, hat seine Rechts= und
Staatsphilosophie unmittelbaren Einfluß nur auf
engere Kreise ausgeübt. Am bedeutsamsten war
es, daß Rousseau im Contrat social viele Ge-
danken in mehr oder minder ähnlicher Weise wieder-
holte und ihnen dadurch die größte Wirksamkeit
verlieh. Aber seine Theorie stellt überhaupt den
Typus für eine gewisse Auffassung des Rechts dar,
für diejenige nämlich, welche zwischen dem physi-
schen Naturgesetz und dem die soziale Ordnung
regelnden Gesetz einen prinzipiellen Unterschied
nicht machen will. So verstanden, kann man der
Einwirkung von Spinozas Rechts= und Staats-
lehre bis in die unmittelbare Gegenwart nach-
gehen.
Literatur. Die maßgebende neuere Gesamt-
ausgabe von S.s Werken (nach der im Vorauf-
gehenden beim Tractatus theologico-politicus die
Seitenangaben gemacht sind) ist: Benedicti de S.
opera duotquot reperta sunt, hrsg. von J. van
Vloten u. J. P. N. Land (2 Bde, Haag 1882/83;
kleine Ausgabe, 3 Bde, ebd. 1895); deutsche über-
setzungen von O. Baensch (vortreffliche Übersetzung
der Ethik 21910), Buchenau, Gebhardt (Übersetzung
des Theologisch-politischen Traktats mit Einleitung
u. wertvollen Anmerkungen 1908), v. Kirchmann
u. Schaarschmidt in der „Philosoph. Bibliothek“,
sowie von J. Stern in Reclams Universalbibliothek;
französische von J. G. Prat 1863 ff.
Allgemeines: Außer den Geschichten der
neueren Philosophie von Überweg-Heinze, J. H. Erd-
mann, Windelband, Stöckl usw., insbesondere von
K. Fischer (II. Spinoza, bes. von Gebhardt * 1909;
Gebhardts Nachträge S. 585,//624 berichten über die
Staat.
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neuere Spinozaforschung u. würdigen S. als Poli-
tiker), sind hierzu nennen: K. O. Meinsma, S.enzyn
kring (1896; deutsch von L. Schneider, S. u. sein
Kreis 1909); J. Freudenthal, Die Lebensgeschichte
S.3 in Quellenschriften, Urkunden u. nichtamtlichen
Nachrichten (1899); derf., S., sein Leben u. seine
Lehre. I. Das Leben S.3 (1904); L. Brunschvig,
S. et ses contemporains, in Revue de Métaph.
et de Morale XIII (1905) 673 ff, XIV (1906) 35 ff
691 ff; J. v. Dunin-Borkowski, Der junge de S.,
Leben u. Werdegang im Licht der Weltphilosophie
(1910). — C. Schaarschmidt, Descartes u. S., ur-
kundl. Darstellung der Philosophie beider (1850);
A. van der Linde, S.3 Lehre u. deren Nachwir-
kungen in Holland (1862); Th. Camerer, Die Lehre
S. (1877); ders., S. u. Schleiermacher (1903);
Fred Pollock, S., his Life and Philosophy (1880,
218399); James Martineau, A Stud)y of S. (1882,
21895); John Caird, S. (1888); Anna Tumarkin,
S. (1908); Fr. Erhardt, Die Philosophie des S.
im Licht der Kritik (1908; wertvolle Gesamt= u.
Einzelkritik von Spinozas System).
Besonderes: über S.8s Staatslehre handelt
Paul Janet, Histoire de la science politique dans
ses rapports avec la morale II (31887) 248/260.
— H. C. W. Sigwart, Vergleichung der Rechts= u.
Staatstheorien des B. de S. u. Th. Hobbes (1842);
J. E. Horn, S.#Staatslehre (21863); M. Joel, S.3
Theol.-Polit. Traktat auf seine Quellen geprüft
(1870; betrifft die biblischen Fragen, insbesondere
S.3 Abhängigkeit darin von Maimonides); Ad.
Gaspary, S. u. Hobbes (1873); René Worms, La
morale de S. (1892); Jos. Hoff, Die Staatslehre
S. mit besonderer Berücksichtigung der einzelnen
Regierungsformen u. der Frage nach dem besten
Staat (1895); R. A. Duff, S.'s Political and
Ethical Philosophy (1903); Kurt Worm, Spi-
nozas Naturrecht (Archiv für Gesch, der Philos.
XVII (1904] 500/515); Otto Gierke, Johannes
Althusius (1880) 87 102 u. ö. — Ad. Menzel,
Wandlungen in der Staatslehre S.s, in Festschrift
für Joseph Unger (1898) 49/86, wozu auch zu vgl.
die Auseinandersetzung zwischen W. Meijer u. Ad.
Menzel im Archiv für Geschichte der Philosophie
XV (1902) 1/31, 278/298; XVI (1903) 455/485.
— ülber Spinozas Ethik (außer den angeführten
Werken von Worms u. Duff): Friedr. Jodl, Gesch.
der Ethik 1 (21906) 487/505.
[Clemens Baeumker.])
Staat. (II. Allgemeinster Begriff. I. Ursprung
des Staats. III. Der Staat ein in der sittlichen
Ordnung begründeter Menschheitszweck. IV. Die
Aufgaben des Staats; Rechtsstaat und Wohlfahrts-
staat. V. Die Grenzen der staatlichen Kompetenz;
Staat und Gesellschaft. VI. Unterschied zwischen
Staat und Gemeinde.]
I. Allgemeinster Begriff. Der Reflexion
über den Staat geht die tatsächliche Entwicklung
des staatlichen Lebens voraus, und nicht jedem
Staatsbegriff, welchen die zu einer bestimmten
Zeit einsetzende Reflexion aufgestellt hat oder auf-
stellt, entsprechen die sämtlichen Phasen jener tat-
sächlichen Entwicklung und alle einzelnen Erschei-
nungsformen staatlichen Lebens. Auch ist es etwas
anderes, zu bestimmen, welches die allgemeinsten
Merkmale sind, denen eine Gestaltung menschlichen
Zusammenlebens entsprechen muß, damit darauf