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meinwesen, a eivil body, verbanden, so hatten sie
doch damit den Staat nicht erst erfunden, und sie
kamen nicht von einem staatlosen Zustand her,
sondern die aus dem englischen Mutterland aus-
wandernden Puritaner brachten von dort die Be-
griffe von sozialer Gliederung und staatlicher Ord-
nung und zugleich die gewohnheitsmäßig ver-
festigte Uberzeugung von der sittlichen Notwendig-
keit einer Unterordnung des einzelnen unter die
Gesamtheit mit sich. Zudem handelt es sich hier
um ganz vereinzelte Vorkommnisse. Ebenso sind
wohl größere Staatengebilde durch den vertrags-
mäßigen Zusammentritt kleinerer zustande ge-
kommen, aber dies bedeutet nur eine Phase in der
Weiterentwicklung des schon bestehenden, nicht das
erstmalige Aufkommen staatlichen Lebens an Stelle
des bis dahin vorhandenen staatlosen Zustands.
Ganz besonders aber muß die unwissenschaftliche
Abstraktion abgetan werden, welche an eine erst-
malige Staatsbegründung durch isolierte Einzel-
wesen denkt. Der Mensch hat seinen Bestand nur
in der menschlichen Familie und durch die Fa-
milie. Er ist, wie schon Aristoteles geltend machte,
von Natur für das Leben in der Gemeinschaft be-
stimmt und angelegt; nur in ihr gewinnt er die
Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Entfal-
tung seiner Fähigkeiten. Wenn es also irgend-
wann und irgendwo menschheitliches Leben ohne
Staat gibt oder gegeben hat, so gibt und gab es doch
kein menschheitliches Leben ohne Familienverband
als die in der Natur unmittelbar begründete Form
menschlicher Gemeinschaft. An die Familie mußte
also auf alle Fälle das erstmalige Entstehen des
Staats anknüpfen.
Unter Familie ist hier ausdrücklich die Zu-
sammengehörigkeit von Mann, Frau und Kindern
verstanden. Eine Zeitlang ist allerdings mit großer
Zuversicht auf Grund ethnogr phisch s zi l gisch
Forschungen die Behauptung aufgestellt worden,
daß die Familie in diesem Sinn erst eine späte
Staat.
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nur halb richtig. Wenn in der patriarchalischen
Familie der Vater das Haupt ist, dem Frau und
Kinder unterworfen sind, und wenn man sich vor-
stellen mag, daß die Familien der Söhne und
Enkel in gleicher Weise dem Stammvater unter-
worfen bleiben, so wurzelt dieses Verhältnis und
mit ihm das einigende Band in dem natürlichen
Schutzbedürfnis und den natürlichen wechselseitigen
Neigungen. Die staatliche Einheit dagegen geht
über die Familienbande hinaus und ist von ihnen
unabhängig. Die Frage muß somit lauten:
wann ist diejenige Einheit der vielen Familien
und Einzelpersonen vorhanden, welche gleich an-
fangs als das am meisten in die Augen sprin-
gende Merkmal des Staats bezeichnet wurde, und
durch welche Ursachen wird sie herbeigeführt?
Einheit des Vielen offenbart sich überall nur in
der Einheitlichkeit der Wirkung, in der gemein-
schaftlichen Tätigkeit; aber staatliche Einheit ist da
noch nicht gegeben, wo getrennte Kräfte vorüber-
gehend zu gemeinsamer Arbeit verbunden sind.
Staatliche Einheit schließt dauernde Interessen-
gemeinschaft ein und betätigt sich in allen den
Wirkungen, welche durch die letztere gefordert sind.
Der Natur der Sache nach lassen sich darin zwei
Richtungen unterscheiden: nach außen die Wah-
rung der gemeinsamen Interessen gegen dritte,
nach innen die geordnete Befriedigung der Inter-
essen auf seiten der zum Staat Verbundenen. In
beiden Fällen gilt die Betätigung dem, was alle
angeht, wenn auch nicht alle bei der Ausführung
beteiligt sind. Möglich aber ist sie nur unter Vor-
aussetzung einer anerkannten Obrigkeit, welche im
Namen aller und für alle tätig ist, nach außen als
oberster Befehlshaber, nach innen als Gesetzgeber
und Richter. Nimmt man an dem Wort Obrig-
keit Anstoß, weil darin eine Hindeutung auf eine
höhere, aus den natürlichen Verhältnissen allein
nicht abzuleitende Autorität enthalten sei, so kann
statt dessen vorläufig von einem anerkannten Or-
Stufe der Entwicklung darstelle und derselben gan des Gemeinschaftslebens gesprochen werden,
andere Verbandsformen vorausgegangen seien, durch welches eine einheitliche Betätigung der vielen
wobei insbesondere der sog. „Mutterrechtszustand“ zustande kommt. Auch wo man sich den Staat
als die niedrigste Stufe jener Entwicklung an= allmählich aus der zum Stamm erweiterten Fa-
gesehen wurde. Inzwischen ist die Ernüchterung milie hervorgewachsen denkt, ist der Patriarch
nicht ausgeblieben. Man hat einsehen gelernt, daß " Staatsoberhaupt, weil und insofern er dieses Or-
alle jene Entwicklungsstufen, für welche zudem die gan, nicht weil er Stammvater des Geschlechts ist.
Annahme eines tierischen Urzustands die Voraus- Nur in ganz primitiven Verhältnissen, bei klein-
setzung bildet, nicht wissenschaftlich begründete Tat- stem Umfang des Staats aber werden die sämt-
sachen, sondern in der Luft schwebende Konstruk-
tionen sind; daß Verhältnisse, wie man sie in der
Gegenwart mit mehr oder weniger Recht bei den
sog. Naturvölkern gefunden zu haben glaubt, nicht
ohne weiteres generalisiert werden dürfen und
wir schlechterdings kein Recht haben, von allgemein
für die gesamte Menschheit gültigen Entwicklungs-
gesetzen zu reden.
Eine Vielheit von Familien also ist die Vor-
lichen Funktionen, die aus der Interessengemein-
schaft resultieren, in einer Hand vereinigt sein.
Die Zunahme der Bevölkerung, der Fortschritt
der Kultur, die Erweiterung und Verwicklung der
Bedürfnisse werden ganz von selbst zu der Bil-
dung verschiedener Organe führen, die aber, soll
die Einheit des Gemeinwesens gewahrt bleiben,
in Unterordnung unter ein oberstes wie immer
geartetes Organ tätig sein müssen. Und so läßt
aussetzung des Staats. Dagegen ist das Wort sich jetzt genauer sagen, daß da ein Staat besteht,
Dahlmanns: „Die Urfamilie ist der Urstaat; jede # wo eine zu dauernder Interessengemeinschaft ver-
Familie, unabhängig dargestellt, ist Staat" — bundene Vielheit menschlicher Familien ein solches