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Teile, kein Aggregat zusammengewürfelter Ele-
mente, sondern die Teile sind durch das Ganze
bestimmt, aus dem Ganzen entworfen und in Bau,
Beschaffenheit und gegenseitiger Anordnung auf
das Ganze angelegt, welches nach dem Ausdruck
des Aristoteles früher ist als die Teile. Nur
durch die zusammenstimmende Tätigkeit der ein-
ander angepaßten, weil sämtlich zum Ganzen hin-
geordneten Teile, seiner Glieder und Werkzeuge,
kann dieses sich entwickeln und erhalten. Ganz
ebenso ist der Staat durch einen ursprünglichen
Zweck innerlich bestimmt. Aus ihm erwächst ihm
das Gesetz seines Aufbaues und seines Lebens.
Die Menschen sollen sich, über den Familien-
verband hinaus, zu größeren Gemeinschaften zu-
sammenschließen, weil nur so die Erfüllung der
ihnen in der sittlichen Ordnung vorgezeichneten
Aufgaben möglich ist. Die Bedürfnisse und Natur-
triebe, welche sie zusammenführen, stehen ganz
ebenso im Dienst des höheren Zwecks wie die
physikalischen und chemischen Kräfte, durch welche
sich Bau und Leben des pflanzlichen und tierischen
Körpers gestaltet und vollzieht. Nichts wäre
irriger als die Meinung, die Anerkennung des
Staats als eines Naturprodukts schließe den
Zweckgedanken aus. Das Gegenteil ist der Fall.
Solang man sich begnügt, den Staat einen
Menschen im großen zu nennen, oder von ihm
als von einer Gesamtpersönlichkeit spricht, kommt
man über bildliche Ausdrucksweise nicht hinaus.
Zur Klarheit des begrifflichen Denkens gelangt
man dagegen, wenn man im Staat einen in der
sittlichen Ordnung begründeten und ebendarum
der Willkür der einzelnen entzogenen dauernden
Menschheitszweck erkennt.
Dies ist freilich nur möglich auf dem Stand-
punkt der theistisch-teleologischen Weltansicht, wie
das Christentum sie einschließt und voraussetzt.
Die Berechtigung derselben ist hier — im Staats-
lexikon — nicht erst zu erweisen. Nur dagegen
muß Verwahrung eingelegt werden, wenn die
Meinung besteht, eine solche Weltansicht gehöre
im besten Fall dem Bereich des religiösen Emp-
findens, nicht dem des wissenschaftlichen Denkens
an. Als ob es nicht eine unentrinnbare Forderung
des Verstands wäre, wie für jedes Gewordene, so
auch für die als ein Gewordenes erkannte gesamte
Weltwirklichkeit eine Ursache zu setzen, und ein
Bedürfnis der Vernunft, diese in Raum und Zeit
ausgebreitete Weltwirklichkeit als ein Werk der
Vernunft zu begreifen! Nicht die Wissenschaft,
sondern ein verbreitetes Vorurteil will den Um-
fang verstandesmäßiger Erkenntnis auf das Ge-
biet anschaulicher Erfahrung beschränken und ver-
pönt jeden Ausblick auf ein dieser Erfahrung ent-
rücktes Gebiet als unwissenschaftlich, uneingedenk
des Worts, das Schelling vor 100 Jahren Jacobi
zurief: „Philosophie ist nur solange wirkliche Philo-
sophie, als noch Meinung oder Gewißheit übrig
ist, daß sich durch sie über Dasein oder Nichtsein
Gottes etwas wissenschaftlich ausmachen lasse."“
Staat.
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Von dem angegebenen Standpunkt aus wird
man somit den Staat zuletzt auf göttliche An-
ordnung zurückführen. Der Staat, in dem eine
Vielheit von Menschen zusammenlebt, der sich
durch ihre Tätigkeit verwirklicht, erhält und aus-
gestaltet, wird damit zu etwas, was sein soll,
und die Anforderungen, welche seine Aufrecht-
erhaltung an die Mitglieder stellt, werden zu
Pflichten, die im Gewissen binden. Daß er seinen
Ursprung unmittelbar aus Gott habe, ist da-
mit nicht behauptet. Es ist nicht das göttliche
Gebot der Staatengründung in Gestalt eines
historischen Faktums an die Menschheit heran-
getreten, sondern dasselbe war wirksam in den
natürlichen Trieben, welche zur Vergesellschaftung
führten, und in den Bedürfnissen, welche nur in
ihr eine ausreichende Befriedigung fanden, ebenso
wie in der vererbten Gewöhnung und der sich
steigernden Liebe zum angestammten Gemein-
wesen, lange bevor die erwachende Reflexion den
Staat und sein Gesetz auf ihre innere Berechtigung
prüfte und seinen Zusammenhang mit der höheren
Ordnung erkannte, in welche das Leben des Men-
schen eingespannt ist.
Ist aber der Staat ein in der sittlichen Ord-
nung begründeter, somit auf göttliche Anordnung
zurückgehender Zweck, welcher durch die freie
Tätigkeit des Menschen realisiert werden soll, so
ist er selbst etwas Gutes und Wertvolles, kein
bloßer Notbehelf und kein notwendiges Übel und
am wenigsten seiner Natur nach „sündhaft“. Nur
völliges Mißverstehen kann zu der immer wieder
auftauchenden Behauptung führen, nach der Lehre
der katholischen Kirche oder doch wenigstens nach
der kirchlichen Lehre des Mittelalters sei der Staat
nach Charakter und Ursprung etwas Sündhaftes
(so neuerdings wiederholt Bornhak S. 1 f). Wenn
in älteren Aussprüchen der Staat nicht selten mit
der Sünde in Verbindung gebracht wird, so ge-
schieht dies in doppelter Weise: entweder soll
darauf hingewiesen werden, daß das unentbehr-
liche, aber unter Umständen lästig empfundene
Attribut des Staats, seine Zwangs= und Straf-
gewalt, im Stand der Unschuld, wo jeder aus sich
das Gute und Rechte getan haben würde, nicht
erforderlich gewesen wäre, sondern erst durch die
Sünde und die daraus hervorgegangene Ver-
derbnis notwendig geworden ist. Aber weder ist
damit die Meinung verbunden, daß es im Stand
der Unschuld einen Staat überhaupt nicht gegeben
haben würde, eine Meinung, welche schon Tho-
mas von Aquin ausdrücklich ablehnt (S. theol.
1, q. 96, a. 4, c.), noch soll behauptet werden,
daß der Staat in der Gesellschaft, wie er durch den
Sündenfall notwendig wurde, selbst etwas Sünd-
haftes wäre. Er ist vielmehr eine gute, auf die
Durchführung der sittlichen Ordnung und die Ab-
wehr des Bösen abzielende Einrichtung. Oder aber
es ist in jenen Aussprüchen die Rede von den ein-
zelnen geschichtlich gewordenen Staatengebilden,
und es wird geltend gemacht, daß die Fürsten