Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1369 
bedrohen, es werden Hantierungen polizeilich ver- 
boten sein, welche für die Gebäulichkeiten der 
Nachbarn eine unmittelbare Feuersgefahr be- 
deuten, und weil ein brennendes Haus sofort eine 
Gefahr für die übrigen bildet, werden Anlagen 
verboten sein, welche, wie Strohdächer, leicht in 
Brand geraten. Von da aber ist es nur ein kleiner 
Schritt zur zwangsweisen Einführung von Feuer- 
löscheinrichtungen. Ahnlich steht es mit den Ver- 
boten, die erlassen werden, um die Einschleppung 
ansteckender Krankheiten zu verhüten. Bestimmend 
für dieselben ist die Pflicht des Staats, das Recht 
der Bürger auf Leben und Gesundheit zu schützen; 
nur als eine Ergänzung aber läßt sich alsdann die 
Einrichtung von Krankenhäusern ansehen, in 
welchen die von der Krankheit Ergriffenen ab- 
gesondert und in Pflege genommen werden. Hier 
und in andern Fällen wird es schwer sein, zu be- 
stimmen, wo Rechtsschutz und Sicherung aufhören 
und die positive Wohlfahrtspflege beginnt. 
Wie weit aber die Vertreter des oben bezeich- 
neten Standpunkts in ihrem Bestreben gingen, der 
freien Initiative den Vorrang vor staatlichen 
Maßnahmen einzuräumen, dafür gibt das spre- 
chendste Beispiel die Jugendschrift Wilhelms 
v. Humboldt: „Ideen zu einem Versuch, die 
Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu be- 
stimmen“ (1791 verfaßt, aber erst 1851 an- 
nähernd vollständig herausgegeben). Hier wird 
der Grundsatz formuliert: „Der Staat enthalte 
sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand 
der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als 
zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen 
auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem 
andern Endzweck beschränke er ihre Freiheit.“ 
Jedes andere Verhalten wird für schädlich erklärt, 
weil es die natürlichen Kräfte schwäche, den 
Charakter erniedrige und die Individuen in eine 
widerwärtige Gleichförmigkeit hineinzwinge. Selbst 
von der Ehe soll der Staat „seine ganze Wirk- 
samkeit entfernen, dieselbe vielmehr der freien 
Willkür der Individuen und der von ihnen er- 
richteten mannigfaltigen Verträge gänzlich über- 
lassen“. Als das Höchste gilt überall das Indi- 
viduum in der freien und mannigfaltigen Ent- 
wicklung der persönlichen Kräfte und als der allein 
vernunftgemäße Zustand ein solcher, „in welchem 
nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Frei- 
heit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigen- 
tümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch 
die physische Natur keine andere Gestalt von 
Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne 
nach dem Maß seines Bedürfnisses und seiner 
Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner 
Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt“. 
Das sind nun freilich Ubertreibungen, von 
denen Humboldt selbst längst zurückgekommen 
war, als er im Jahr 1809 die Leitung des 
preußischen Unterrichtswesens übernahm und sich 
erfolgreich an der Wiederaufrichtung des Staats 
beteiligte. Eine nachhaltige Verstärkung aber er- 
  
Staat. 
  
1370 
fuhr die politische Denkweise, welche die Aufgabe 
des Staats ausschließlich in den Rechtsschutz ver- 
legt wissen will, durch den Siegeslauf, den der 
ökonomische Liberalismus, das System des laissez 
aller, laissez faire, von England aus über die 
ganze zivilisierte Welt antrat. Denn er war ge- 
tragen nicht durch ein philosophisches System, 
eine abstrakte Theorie, sondern durch die realen 
Faktoren des Wirtschaftslebens, die durch die 
Maschinentechnik völlig, veränderte Form der ge- 
werblichen Produktion, den ungeahnten Auf- 
schwung von Handel und Verkehr infolge der 
neuen Verkehrsmittel und die ins Ungeheure ge- 
wachsene Macht des Kapitals. In einem ganz 
andern Sinn, als der Optimismus Wilhelms 
v. Humboldt vermeint hatte, wurde jetzt das Recht 
des Individuums proklamiert und jede Schranke 
beseitigt, welche der Gedanke an die Solidarität 
der Menschen und die Ehre der Arbeit vor dem 
rücksichtslosen Egoismus des Erwerbens und Er- 
raffens aufgerichtet hatte. Man lasse nur den 
wirtschaftlichen Kräften freien Lauf, man hüte sich, 
in das feine Geflecht der Gütererzeugung und 
Güterverteilung mit der plumpen Hand staatlicher 
Direktiven eingreifen zu wollen, und eine allge- 
meine Blüte der Kultur, eine früheren Perioden 
unbekannte Steigerung des Volkswohlstands wird 
eintreten! Jahrelang ist diese Weisheit von allen 
Kathedern gepredigt worden, hat sie die Gedanken 
von Staatsmännern und Politikern beherrscht und 
die Gesetzgebung beeinflußt. Auch war es nicht 
wissenschaftliche Kritik oder verbesserte theoretische 
Einsicht, was im letzten Drittel des vergangenen 
Jahrhunderts in Deutschland einen Umschwung 
herbeiführte, sondern das Anwachsen der sozia- 
listischen Partei, der gegenüber sich das Vor- 
handensein einer „sozialen Frage“ nicht länger in 
Abrede stellen ließ, und sodann die veränderte 
Politik des Fürsten Bismarck. Über das erstere 
und die Gründe, die dafür bestimmend waren, 
braucht an dieser Stelle nicht weiter gesprochen zu 
werden, ebensowenig wie von den Mahnungen 
einsichtiger und wohlwollender Männer, die schon 
längst auf die drohende Gefahr aufmerksam ge- 
macht und Mittel der Abhilfe verlangt hatten. 
Aber man begreift, daß die sozialistischen Forde- 
rungen die Regierungen auf die Bahn sozial- 
politischer Maßnahmen drängen mußten. Zu 
einem wichtigen Bestandteil derselben hätte man 
freilich schon immer gelangen müssen, wenn man 
den vom Staat geforderten Rechtsschutz nicht in 
der einseitigen Weise verstanden hätte, welche 
Lassalle durch das Witzwort vom „Nachtwächter- 
staat“ geißelte. Ich habe anderwärts gezeigt, daß 
es sich bei der sog. Arbeiterschutzgesetzgebung nicht 
um die Betätigung humaner Absichten handelt, 
um Gnaden, die man gewähren oder verweigern 
mag, sondern um Ansprüche, die im natürlichen 
Recht begründet sind. Eine vollendete Arbeiter- 
schutzgesetzgebung bedeutet eine vollständige, bis 
in ihre Konsequenzen entwickelte Anerkennung des
	        
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