Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1375 
ziehung, Gewährung von Arbeitsmitteln, Be- 
schaffung von Arbeitsgelegenheit usw. Daß der 
Staat in solcher Weise bei besondern Gelegen- 
heiten einzugreifen habe, wie sie ungewöhnliche 
Elementarereignisse, Kriege und Epidemien mit 
sich bringen, ist allgemein zugestanden, aber auch 
wo jener Zweck durch ständige Einrichtungen ver- 
folgt würde, läge eine solche Fürsorge für eine 
bestimmte Klasse von Bürgern doch so sehr im 
Interesse der Gesamtheit, daß am Beruf des 
Staats, sich dieselbe angelegen sein zu lassen, nicht 
gezweifelt werden könnte. 
Dies führt sogleich auf einen andern Punkt. 
Wenn von den wirtschaftlich Schwachen die Rede 
ist, so sind damit in der Regel nicht die Armen 
gemeint, sondern die Angehörigen solcher Er- 
werbsstände, welche durch Verhältnisse, die sie 
nicht verschuldet haben und die abzuändern nicht 
in ihrer Macht liegt, in ihrem Erwerbsleben ge- 
hemmt und geschädigt sind. Von der vollendeten 
wirtschaftlichen Ohnmacht, mit welcher der einzelne 
großindustrielle Lohnarbeiter dem Unternehmer 
gegenübersteht, soll hier nicht gesprochen werden. 
Es wurde schon bemerkt, daß der Schutz, den ihm 
die sozialpolitische Gesetzgebung zu leisten hat, zu 
einem großen Teil als Rechtsschutz anzusehen ist. 
Wirtschaftlich schwächer ist aber das Handwerk, 
wo es der Großindustrie gegenübersteht, und der 
kleine und mittlere Kaufmann gegenüber dem 
Warenhaus. Über ihre wirtschaftliche Notlage 
klagt seit Jahren in vielen europäischen Staaten 
die Landwirtschaft, weil sie die Konkurrenz mit 
der Getreideausfuhr fremder Länder, die aus 
mancherlei Gründen billiger produzieren, nicht 
auszuhalten vermag. Hier also handelt es sich 
zweifellos um die besondern Interessen einzelner 
Klassen und Stände, aber man verlangt — und 
die grundsätzliche Berechtigung dieser Forderung 
wird in der Gegenwart nicht mehr bestritten —, daß 
der Staat ihnen mit den Mitteln der Gesamtheit 
zu Hilfe komme. Rechtfertigen aber läßt sich die 
Forderung hier und in allen andern Fällen der 
gleichen Art nur aus der Erwägung, daß die 
Gesamtheit selbst an der Erhaltung jener Klassen 
und Stände ein Interesse hat. Denn davon ist 
auszugehen, daß für staatliche Wohlfahrtspflege 
immer nur das Interesse der Gesamtheit bestim- 
mend sein kann. Daraus folgt unmittelbar, daß 
der Staat nicht den Beruf hat, einer Produktions- 
weise durch künstliche Mittel den Fortbestand zu 
sichern, welche von dem Fortschritt der wirtschaft- 
lichen Entwicklung überholt ist. Wenn also vom 
Staat Schutz des Handwerks verlangt wird, so 
kann die Absicht vernünftigerweise nicht sein, die 
veraltete Handwerkstechnik dort noch länger auf- 
recht zu erhalten, wo der maschinelle Großbetrieb 
Besseres zu leisten vermag. Schutz des Handwerks 
kann für den Staat nur bedeuten: Erhaltung des 
für den ersprießlichen Fortgang des öffentlichen 
Lebens so überaus wichtigen Mittelstands, also 
Schut der wirtschaftlich selbständigen kleineren und 
Staat. 
  
1376 
mittleren Gewerbetreibenden gegen das Herab- 
sinken in die große Masse der abhängigen Lohn- 
arbeiter. Voraussetzung hierfür aber und zugleich 
die einzige Gewähr eines Erfolgs ist, daß es sich 
dabei um Gewerbetreibende handelt, welche wegen 
der besondern Natur und Beschaffenheit ihres Pro- 
duktionszweigs oder aus irgend welchen andern 
Umständen neben der großindustriellen Produktion 
noch eine wertvolle wirtschaftliche Aufgabe erfüllen. 
Wo derartige Elemente des Wirtschaftslebens be- 
stehen, und sofern es Mittel gibt, dieselben in 
ihrem Bestand zu stärken, ist der Staat befugt, 
diese Mittel zu ergreifen. Er dient dadurch seiner 
eignen Erhaltung. 
Noch anders steht es mit der Landwirtschaft. 
Nicht nur, daß es im Interesse eines jeden Staats 
gelegen ist, sich einen gesunden und kräftigen 
Bauernstand solang als möglich zu erhalten. — 
ein großes Staatswesen kann auch eine eigne 
einheimische Landwirtschaft, kann die inländische 
Erzeugung der unentbehrlichen Nahrungsmittel, 
vor allem des Brotgetreides, nicht entbehren aus 
dem einfachen Grund, weil die Abhängigkeit von 
fremdem Import für den Kriegsfall die Gefahr 
einschließt, von der Zufuhr abgeschnitten zu wer- 
den. Ein furchtbarer Schrecken erfaßte in den 
Tagen des sinkenden Kaiserreichs Rom und Italien, 
wenn die Besorgnis aufkam, es könnte die Ge- 
treideflotte aus Afrika ausbleiben. Ahnliches 
würde sich auch in der modernen Welt ereignen, 
wenn in einem Staat, während die Industrie sich 
mächtig entwickelt und große Reichtümer ins Land 
bringt, auch die Lebenshaltung der gewerblichen 
Arbeiter sich steigert, gleichzeitig die Landwirtschaft 
verkümmert, hinsiecht und endlich zugrunde geht. 
Auch für England besteht die Gefahr nur solang 
nicht, als seine Flotte die Meere beherrscht und 
unter ihrem Schutz die Kolonien das Mutterland 
versorgen können. Hier darf der Staat nicht ruhig 
zusehen, er muß eingreifen, solang es noch Zeit 
ist, und wo es nottut, auch vor energischen Maß- 
regeln nicht zurückschrecken. Dem Interesse der 
städtischen Bevölkerung an niedrigen Lebensmittel- 
preisen steht die Fürsorge für die einheimische 
Landwirtschaft als das höhere Interesse des Staats- 
ganzen gegenüber. 
V. Die Grenzen der staatlichen Kompetenz. 
Ein Doppeltes hat die vorangehende Erörterung 
herausgestellt: erstens, daß es nicht angeht, Rechts- 
schutz und Wohlfahrtspflege auseinanderzureißen; 
sie bilden zusammen die beiden großen Aufgaben, 
welche sich unmittelbar aus der Natur des Staats 
ergeben; sodann aber, daß für staatliche Wohl- 
fahrtspflege jederzeit die Rücksicht auf das Staats- 
ganze bestimmend sein muß. Nun aber erhebt sich 
die Frage, wie weit diese Rücksichtnahme führt. 
Wenn nach einem bekannten Spruch das öffent- 
liche Wohl oberstes Gesetz sein soll, so könnte es 
scheinen, als ob es Grenzen für die Wirksamkeit 
des Staats in dieser Richtung überhaupt nicht gebe 
und vor jenem obersten Gesetz alle andern Erwä- 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.