Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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gungen verstummen müßten. Das war die Mei- 
nung, welche in der modernen Welt zuerst von 
Th. Hobbes vertreten wurde. Ihm ist der Staat 
die große Wohlfahrtsanstalt, welche die Furcht und 
der Selbsterhaltungstrieb der Menschen aufrichten, 
und durch die sie vor dem Krieg aller gegen alle 
geschützt werden. Ebendarum aber herrscht der 
Staat über die Menschen mit unumschränkter 
Macht. Es gibt ihm gegenüber kein berechtigtes 
Einzelinteresse und keine Berufung auf ein Gebot 
des Gewissens. Zwei Jahrhunderte später hat 
Hegel die gleiche Lehre, nur in andern Wendungen, 
vorgetragen. Für die Wissenschaft der „sich selbst 
begreifenden Vernunft" ist der Staat „die Wirk- 
lichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist, der 
offenbare, sich selbst deutliche substantielle Wille, 
der sich denkt und weiß und das, was er weiß, 
und sofern er es weiß, vollführt“. Er ist seiner 
Idee nach „der wirkliche Gott“, der „göttliche 
Wille als gegenwärtiger, sich zu wirklicher Gestalt 
und Organisation entfaltender Geist“. Er ist 
„absoluter, unbewegter Selbstzweck“ und hat als 
solcher „das höchste Recht gegen die einzelnen, 
deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats 
zu sein“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 
88 257.258.270. 272). Der konkrete Staat, den 
Hegel vor Augen hatte und aus dessen Bewußtsein 
heraus er seine Staatslehre entwarf, war der preußi- 
sche im ersten Drittel des 19. Jahrh., und er selbst 
hat ohne Zweifel dazu beigetragen, das preußische 
Staatsbewußtsein und den Gedanken der alles 
überragenden Staatshoheit zu stärken und zu be- 
festigen. Die Theorie hat trotzdem nicht verhütet, 
daß nicht lange danach in Gesetzgebung und Ver- 
waltung die Grundsätze des Liberalismus zur 
Geltung gelangten und insbesondere das wirt- 
schaftliche Gebiet der Einflußnahme des Staats 
tunlichst entrückt wurde. Als dagegen in dem 
Kulturkampf der 1870er Jahre der Versuch ge- 
macht wurde, die katholische Kirche in Preußen 
ganz und gar der staatlichen Oberhoheit zu unter- 
werfen, ist dies nicht selten mit Argumenten ver- 
teidigt worden, welche an die Hegelsche Auffassung 
vom Staat erinnerten. Deckte sich doch auch mit 
der letzteren die in den Kreisen der Juristen nur 
allzu verbreitete Lehre, derzufolge staatliche Gesetz- 
gebung das Recht schafft und es ein Recht außer 
dem Staat und gegen den Staat überhaupt nicht 
gibt. Es gelang nicht, die „Souveränität der 
Gesetzgebung“ der katholischen Kirche gegenüber 
siegreich durchzuführen. Dafür scheint jetzt, nach- 
dem die früher erwähnten Faktoren die einseitige 
Rechtsstaatstheorie überwunden und beseitigthaben, 
die Hegelsche Lehre von der Staatsomnipotenz auf 
einem andern Gebiet ihre Auferstehung feiern zu 
sollen und der Staatssozialismus bei vielen als 
das Mittel zu gelten, den revolutionären Sozialis= 
mus zu überwinden. Eine grundsätzliche Erörte- 
rung der Frage nach den Grenzen der staatlichen 
Kompetenz entspricht somit zugleich dem politischen 
Tagesbedürfnis. 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Staat. 
  
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Dabei aber ist vorab die Bemerkung zu machen, 
welche Aristoteles wiederholt und nachdrücklich 
seinen ethisch-politischen Untersuchungen voran- 
geschickt hat. Wo von den unendlich verwickelten 
und mannigfaltigen Verhältnissen des Menschen- 
lebens die Rede ist, kann man nicht, wie in der 
Mathematik, Lehrsätze von ausnahmsloser Gültig- 
keit aufstellen. Nur gewisse oberste Prinzipien 
lassen sich aufzeigen, deren Anwendung aber je 
nach den Verhältnissen des besondern Falls, bei 
dessen Beurteilung nicht selten einander kreuzende 
Gesichtspunkte in Betracht kommen, zu sehr ver- 
schiedenen Ergebnissen führt. Mit diesem Vor- 
behalt ist nunmehr das natürliche Recht des In- 
dividuums und das natürliche Recht der Familie 
als erste Schranke der staatlichen Kompetenz zu 
bezeichnen. Jeder einzelne besitzt auf Grund seiner 
menschlichen Persönlichkeit eine autonome Sphäre, 
innerhalb deren er nur sich selbst und seinem Ge- 
wissen verantwortlich ist und sein will, und wo 
jeder unbefugte Eingriff von außen als Rechts- 
verletzung empfunden wird. Die Familie ist die 
ursprünglichste, unmittelbar in der Natur be- 
gründete Vergesellschaftung; aus ihrem unver- 
änderlichen Zweck erwächst ihr ein eigenes, un- 
veräußerliches Recht, welches der Staatauzuerkennen 
und zu schützen hat, das er nicht umgestalten oder 
gar wegdekretieren kann. Die Notwendigkeit des 
gemachten Vorbehalts aber zeigt sich, wenn man 
bedenkt, wie mancherlei Einschränkungen die per- 
sönliche Freiheit, auch wo sie nicht durch persön- 
liche Schuld verwirkt wird, durch die Einrich- 
tungen des modernen Staatslebens erfährt. Nie- 
mand bestreitet, daß der erwachsene Bürger die 
rechtliche Freiheit besitze, sich sein Leben nach 
eignem Ermessen zu gestalten, aber die in vielen 
Ländern eingeführte allgemeine Wehrpflicht macht 
diese Freiheit für eine Reihe von Jahren mehr 
oder minder illusorisch. Und so sehr die Gesetz- 
gebung sich hüten soll, in das Heiligtum der 
Familie einzugreifen, so hat doch die Entwicklung 
des modernen Wirtschaftslebens dahin geführt, 
daß zum Schutz der bei gewerblichen Arbeiten 
beschäftigten Kinder die freie Ausübung der 
elterlichen Gewalt nicht unerheblich eingeschränkt 
wurde. Aber etwas anderes ist es, der staatlichen 
Gesetzgebung die Befugnis zuschreiben, unter ganz 
bestimmten Voraussetzungen die persönliche Frei- 
heit des einzelnen und das Bestimmungsrecht der 
Eltern einzuengen, und etwas anderes, das eine 
wie das andere als nicht vorhanden anzusehen 
und alles der willkürlichen Reglung durch die 
staatliche Autorität zu überlassen. Tatsächlich 
kann sich niemand auf sein persönliches Freiheits- 
recht berufen, um sich dadurch der Pflicht der 
Landesverteidigung zu entziehen, und der elter- 
lichen Gewalt steht der rechtliche Anspruch des 
Kindes auf Schutz seiner körperlichen und geistigen 
Entwicklung gegenüber. Die vom natürlichen 
Recht aufgeführte Schranke besteht trotzdem, und 
der sozialistische Zwangsstaat, der in völliger 
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