Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Mißachtung desselben die Berufsfreiheit auf- 
heben und das Erziehungsrecht der Eltern an sich 
reißen wollte, würde schon allein hierdurch sich als 
unerträgliche Tyrannei ausweisen. 
Ahnlich ist es mit dem Eigentum. Dasselbe 
wurzelt im natürlichen Recht, aber erst im Staat 
wird es zu der allseitig bestimmten und befestigten 
Institution, so zwar, daß nun der Staat selbst sie 
respektieren muß und nicht willkürlich ändern kann. 
Die Normen, welche der Staat im Namen der 
Gemeinschaft für die einzelnen erläßt, binden auch 
ihn in seiner Stellung diesen gegenüber. Wenn 
auch Fälle eintreten, wo ein an sich begründetes 
Recht einem höheren Recht weichen muß, so bleibt 
es doch dabei, daß die Anerkennung des Rechts 
überhaupt für die Ausdehnung der staatlichen 
Kompetenz eine erste Grenze bildet. 
Die zweite liegt in der Wertung der Freiheit. 
Was dies hier zu besagen hat, bedarf einer kurzen 
Auseinandersetzung. In der Familie tritt dem 
Staat die ursprünglichste, aber nicht die einzig 
mögliche Vergesellschaftung gegenüber. Nur in 
primitiven Verhältnissen, in ganz kleinen Gemein- 
wesen verbindet die zu staatlicher Einheit zusammen- 
gefaßten Bürger zugleich auch die Gleichartigkeit 
der Lebensinteressen. Der entwickelte Staat um- 
schließt eine Vielheit gesonderter Lebenskreise, deren 
Angehörige durch die Ubereinstimmung nicht nur 
der wirtschaftlichen, sondern ganz allgemein der 
beruflichen Interessen und Tätigkeiten und der 
daran sich anschließenden Lebensweise und Lebens- 
haltung, der Sitten, Gebräuche und Denkungsart 
miteinander verbunden sind, Landwirte und Ge- 
werbetreibende, Handwerker und Großindustrielle, 
Kapitalisten und Lohnarbeiter, Kaufleute, Ge- 
lehrte, Künstler, und was sich sonst noch aufzählen 
läßt, Klassen und Stände, lose Gruppen oder feste 
Vereinigungen. Den Inbegriff all dieser Lebens- 
kreise pflegt man mit dem Namen der Gesellschaft 
im Unterschied vom Staat zu bezeichnen. Dabei 
handelt es sich nicht um eine bloße Namengebung. 
Die Gesellschaft vom Staat unterscheiden heißt 
der ersteren, oder richtiger, den darunter zusammen- 
gefaßten Bestandteilen ein selbständiges, vom 
Staat unabhängiges Leben aus eignen Kräften, 
Organen und Funktionen zuschreiben. Und hieran 
ist festzuhalten, nur daß damit, wie sich aus dem 
früher Gesagten ergibt, nicht die weitere Meinung 
verbunden werden darf, als ob der Staat die Ge- 
sellschaft nun vollkommen sich selbst überlassen solle 
und ihm eine positive Stellungnahme ihr gegen- 
über nicht zukäme. Er hat nicht etwa nur den 
festen Rahmen abzugeben, der die verschiedenen 
gesellschaftlichen Bildungen von außen her zur 
Einheit zusammenfaßt, und innerhalb dessen diese 
letzteren den Kampf ihrer vielfach einander wider- 
streitenden Sonderinteressen selbständig auszu- 
fechten haben, vielmehr eignet ihm als dem Ver- 
treter der ein zusammengehöriges Ganzes bilden- 
den Allgemeinheit die Leitung, Förderung und 
Ausgleichung dieser verschiedenen Interessen im 
Staat. 
  
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Sinn der gemeinen Wohlfahrt. Damit ist der 
Begriff der Sozialpolitik in seiner ganzen und 
umfassenden Bedeutung, gleichzeitig aber auch die 
Verwerfung jedes autoritären oder Staatssozialis- 
mus ausgesprochen. Der letztere will die volle 
staatliche Souveränität auf das soziale, vorzüglich 
auf das wirtschaftliche Gebiet, und zwar seinem 
ganzen Umfang nach erstrecken, so daß dem Staat 
nicht nur die Reglung des gesamten Verhältnisses 
zwischen Arbeiter und Unternehmer zusteht, son- 
dern auch die Überleitung beliebiger Teile der 
Gütererzeugung und des Verkehrs unter seine 
Oberleitung oder auch in seinen eignen Betrieb in 
seiner Befugnis liegt. 
Hiergegen nun ist im Namen der Freiheit die 
nachdrücklichste Verwahrung einzulegen. Die 
Durchführung dieses Programms würde nicht 
etwa bloß einen Rückfall in den alten in alles 
hineinregierenden Polizeistaat bedeuten, sondern 
eine völlige Absorption der Gesellschaft durch den 
Staat und damit eine Steigerung der staatlichen 
Macht, welche alles selbständige Leben der Glieder 
ertötete. Auf dem hier vertretenen Standpunkt 
gilt zunächst, daß der Staat nur insoweit in das 
durch den Arbeitsvertrag geregelte Verhältnis 
zwischen Arbeiter und Unternehmer einzugreifen 
hat, als er von dem letzteren Maßregeln und Ein- 
richtungen verlangt, welche die Rechte der Arbeiter 
in dem früher angegebenen Sinn zu schützen be- 
stimmt sind. Soll darüber hinausgegangen wer- 
den, so wird man sich nicht begnügen, nur etwa 
diejenige Arbeitszeit gesetzlich festzulegen, welche 
der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der Ar- 
beiter entspricht, deren Überschreitung daher eine 
Beeinträchtigung ihres Rechts auf Leben und Ge- 
sundheit einschließt, sondern es wird, ohne daß 
eine Grenze zu finden wäre, rücksichtslose Inter- 
essenvertretung auf der einen und humanitärer 
Idealismus auf der andern Seite auf die Einfüh- 
rung eines möglichst kurz bemessenen Normal- 
arbeitstags drängen. Weitaus am wichtigsten aber 
ist natürlich die Lohnfrage. Wenn der Staat das 
Arbeitsverhältnis nach seinem ganzen Umfang 
regeln soll, so wird er vor allem den Arbeitslohn 
gesetzlich vorschreiben müssen, und nicht etwa nur 
einen Minimallohn, entsprechend dem Existenz- 
minimum des Arbeiters — das ließe sich auch 
nach den hier vertretenen Grundsätzen sehr wohl 
verteidigen —, sondern den jeweils angemessenen 
Lohn. Aber wonach soll sich die Höhe desselben 
bestimmen? Heute geschieht dies durch das Ver- 
hältnis von Angebot und Nachfrage, also zuletzt 
und jedenfalls für den Arbeiter der Großindustrie, 
der ja immer zuerst, wenn nicht ausschließlich ins 
Auge gefaßt wird, durch die Lage des Weltmarkts, 
von welcher überhaupt Umfang und Richtung der 
Produktion abhängen. Soll statt dessen der Staat 
den Lohn autoritativ festsetzen, so ist dies nicht 
möglich, solange die heutige „anarchische“, der 
freien Berufswahl wie dem Erwerbstrieb und dem 
Unternehmungsgeist der Privaten überlassene Pro- 
 
	        
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