Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Staat ist Rechtsstaat nur mit Bezug auf die voll- 
berechtigten Bürger. Der antike Staat ist Klassen- 
staat, aber nicht im modernen Sinn einer freien 
wirtschaftlichen Klassenschichtung, sondern im Sinn 
der Beherrschung und Unterdrückung der nicht- 
privilegierten Klassen durch die privilegierten, wobei 
die Entwicklung eine zunehmende Verbreiterung, 
Demokratisierung der herrschenden Klasse erweist.“ 
„Die Staatsfunktionen im antiken Staat lassen 
sich demnach dahin zusammenfassen: Erhaltung 
und Stärkung der wirtschaftlichen Position, der 
Kulturstellung und der politischen Freiheit der im 
Staat mächtigen Klassen.“ 
Literatur. R. Schmidt, Allgemeine Staats- 
lehre II, Abt. 1 (1903) 87/349; Jellinek, Allge- 
meine Staatslehre (21905; Kap. 10: Die geschichtl. 
Haupttypen des Staats) 280/323; U. v. Wilamo- 
witz-Moellendorff u. B. Niese, Staat u. Gesellschaft 
der Griechen u. Römer, in Die Kultur der Gegen- 
wart TI II, Abt. IV, 1 (1910). Für die ältere Lite- 
ratur vgl. die Angaben in den beiden ersten Werken. 
Einen lehrreichen überblick über die Entwicklung 
u. Wandlung der Auffassung u. Kenntnis vom 
antiken Staat u. von der Antike überhaupt bietet 
C. J. Neumann, Entwicklung u. Aufgabe der alten 
Geschichte (1910) mit erschöpfenden biographischen 
u. bibliographischen Notizen. Vgl. auch U. v. Wi- 
lampwit a. a. O. 201/207; Niese u. a. O. 260/262. 
Überdie antiken Staatstheorien: Rehm, Gesch. der 
Staatsrechtswissenschaft, in Marquardsens Handb. 
des öffentl. Rechts, Einleitungsband (1896); dazu 
die Geschichten der griechischen Philosophie: Zeller, 
Philosophie der Griechen III (71889; Sokrates u. 
Plato) IV ((/1903; Aristoteles); Gomperz, Griech. 
Denker II (21903; Plato) III (1 u. 71909; Ari- 
stoteles). über das Verhältnis der platonischen 
u. aristotelischen Theorien zur Wirklichkeit des an- 
tiken Griechenlands besonders: Pöhlmann, Ge- 
schichte des antiken Kommunismus u. Sozialismus 
1 (1893; 2. Kap.: „Die individualistische Zer- 
setzung der Gesellschaft u. die Reaktion der philo- 
sophischen Staats= u. Gesellschaftstheorie" 146/264; 
3. Kap.: „Organisationspläne zum Aufbau einer 
neuen Staats= u. Gesellschaftsordnung“ 264/610). 
L[Adolf Ott.] 
Staat, der mittelalterliche. 1. Auch 
für das Mittelalter kann man von einem beson- 
dern Staatstyp reden, d. h. von gewissen cha- 
rakteristischen Eigenschaften des mittelalterlichen 
Staatsverbands und seines Verhältnisses zum In- 
dividuum, insbesondere auch zum religiösen Leben, 
zur religiösen Organisation, zur Kirche. Freilich 
muß man auch hier die selbstverständliche Ein- 
schränkung machen, daß dieser mittelalterliche 
Staatstyp nicht immer und überall vorhanden 
war, daß es sich auch bei der empirischen Feststel- 
lung des Typus „mittelalterlicher Staat“ mehr 
um ein heuristisches Hilfsmittel handelt, um die 
Mannigfaltigkeit des geschichtlichen mittelalter- 
lichen Staatslebens begrifflich zu gliedern und zu 
beherrschen. Auch wird man sich hier ebenso wie 
beim Typus „antiker Staat“ vor Augen halten 
müssen, daß es Abweichungen und Umbildungen 
gibt, die in ihrer Eigenart zu erklären und zu be- 
Staat, der mittelalterliche. 
  
1390 
gründen sind. So kann man gewiß davon reden, 
daß der Feudalismus das Mittelalter kennzeichnet, 
ohne dabei die Eigenart des fränkisch-karolingi- 
schen Einheits- und Beamtenstaats als Sonder- 
erscheinung zu übersehen. Die karolingische Theo- 
kratie wird ebenfalls als eine Eigenart des mittel- 
alterlichen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche 
leicht ernannt werden. Ebenso wird man auf das 
Fehlen der staatsbürgerlichen Toleranz bei der 
Charakterisierung der mittelalterlichen Staats- 
wesen hinweisen, obwohl ja diese Auffassung des 
Glaubensstaats noch lange in der Neuzeit herrschte. 
Der mittelalterliche Staatstyp läßt sich charakte- 
risieren in der Art des staatlichen Verbands, in 
seinem Verhältnis zur Kirche und Religion, in dem 
Umfang und der Art der Staatsbetätigung. 
2. Der antike Staat wie der moderne geben 
sich begrifflich als ein in sich einheitlich geschlossenes 
Gebilde, so viele Träger auch an der Bildung des 
Staatswillens beteiligt sind. Im Gegensatz dazu 
ist der mittelalterliche Staat ein in 
sich gespaltener. 
Das Vorbild der antiken Staatseinheit mit 
seiner straffen Zentralisation blieb zwar bei der 
mittelalterlichen Staatenbildung nicht ohne Ein- 
fluß. Aber die Versuche ähnlich einheitlich organi- 
sierter Reiche konnten sich auf die Dauer nicht 
halten. Daran war schon der Umstand schuld, daß 
die mittelalterlichen germanischen Staaten keinen 
Mittelpunkt hatten; sie waren nicht Stadtstaaten, 
wie die antiken in Griechenland und Rom, son- 
dern Landstaaten, „die ein persönliches, aber kein 
dingliches Zentrum hatten. Der Sitz des Fürsten 
ist etwas Zufälliges, von der staatlichen Organi- 
sation gänzlich Unabhängiges. Damit ist aber von 
vornherein ein Mangel an Zentralisation gegeben. 
Straffe Organisation eines auf eine weite Fläche 
ohne bedeutendere Zentren verteilten Volks stößt 
namentlich in einer Zeit unentwickelten Kommuni- 
kationswesens und überwiegender Naturalwirt- 
schaft auf die größten Schwierigkeiten, und die 
dahin zielenden Versuche, so vor allem die karo- 
lingische Grasschaftsverfassung, bleiben ohne 
dauernden Erfolg“ (Jellinek, Allgemeine Staats- 
lehre 1:1905|] 311). 
Zum Dualismus, der der germanischen Staaten- 
bildung von Anfang an eigen gewesen (in der 
Rechtsbildung und im Gericht: Königsrecht und 
Volksrecht), gesellte sich nun der Dualismus der 
neu auflebenden Stammesgewalten. Vollendseiner 
Einheit beraubt wurde der mittelalterliche Staat 
durch die Durchsetzung mit dem Lehnswesen, der 
Feudalität. Es bedeutete dies geradezu eine Ver- 
privatrechtlichung des Staats. Dazu gesellten sich 
in der Folge zu den vom Staat unabhängigen 
öffentlichen Gewalten, wie sie durch die Feudali- 
sierung der königlichen Amter und die spätere Fort- 
bildung der Immunitäten geschaffen wurden, noch 
die unabhängigen Städte. Es war schließlich eine 
wahre Zersplitterung der öffentlichen Gewalten, 
gegen die freilich der Versuch einer Reaktion einsetzen 
 
	        
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