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Staat ist Rechtsstaat nur mit Bezug auf die voll-
berechtigten Bürger. Der antike Staat ist Klassen-
staat, aber nicht im modernen Sinn einer freien
wirtschaftlichen Klassenschichtung, sondern im Sinn
der Beherrschung und Unterdrückung der nicht-
privilegierten Klassen durch die privilegierten, wobei
die Entwicklung eine zunehmende Verbreiterung,
Demokratisierung der herrschenden Klasse erweist.“
„Die Staatsfunktionen im antiken Staat lassen
sich demnach dahin zusammenfassen: Erhaltung
und Stärkung der wirtschaftlichen Position, der
Kulturstellung und der politischen Freiheit der im
Staat mächtigen Klassen.“
Literatur. R. Schmidt, Allgemeine Staats-
lehre II, Abt. 1 (1903) 87/349; Jellinek, Allge-
meine Staatslehre (21905; Kap. 10: Die geschichtl.
Haupttypen des Staats) 280/323; U. v. Wilamo-
witz-Moellendorff u. B. Niese, Staat u. Gesellschaft
der Griechen u. Römer, in Die Kultur der Gegen-
wart TI II, Abt. IV, 1 (1910). Für die ältere Lite-
ratur vgl. die Angaben in den beiden ersten Werken.
Einen lehrreichen überblick über die Entwicklung
u. Wandlung der Auffassung u. Kenntnis vom
antiken Staat u. von der Antike überhaupt bietet
C. J. Neumann, Entwicklung u. Aufgabe der alten
Geschichte (1910) mit erschöpfenden biographischen
u. bibliographischen Notizen. Vgl. auch U. v. Wi-
lampwit a. a. O. 201/207; Niese u. a. O. 260/262.
Überdie antiken Staatstheorien: Rehm, Gesch. der
Staatsrechtswissenschaft, in Marquardsens Handb.
des öffentl. Rechts, Einleitungsband (1896); dazu
die Geschichten der griechischen Philosophie: Zeller,
Philosophie der Griechen III (71889; Sokrates u.
Plato) IV ((/1903; Aristoteles); Gomperz, Griech.
Denker II (21903; Plato) III (1 u. 71909; Ari-
stoteles). über das Verhältnis der platonischen
u. aristotelischen Theorien zur Wirklichkeit des an-
tiken Griechenlands besonders: Pöhlmann, Ge-
schichte des antiken Kommunismus u. Sozialismus
1 (1893; 2. Kap.: „Die individualistische Zer-
setzung der Gesellschaft u. die Reaktion der philo-
sophischen Staats= u. Gesellschaftstheorie" 146/264;
3. Kap.: „Organisationspläne zum Aufbau einer
neuen Staats= u. Gesellschaftsordnung“ 264/610).
L[Adolf Ott.]
Staat, der mittelalterliche. 1. Auch
für das Mittelalter kann man von einem beson-
dern Staatstyp reden, d. h. von gewissen cha-
rakteristischen Eigenschaften des mittelalterlichen
Staatsverbands und seines Verhältnisses zum In-
dividuum, insbesondere auch zum religiösen Leben,
zur religiösen Organisation, zur Kirche. Freilich
muß man auch hier die selbstverständliche Ein-
schränkung machen, daß dieser mittelalterliche
Staatstyp nicht immer und überall vorhanden
war, daß es sich auch bei der empirischen Feststel-
lung des Typus „mittelalterlicher Staat“ mehr
um ein heuristisches Hilfsmittel handelt, um die
Mannigfaltigkeit des geschichtlichen mittelalter-
lichen Staatslebens begrifflich zu gliedern und zu
beherrschen. Auch wird man sich hier ebenso wie
beim Typus „antiker Staat“ vor Augen halten
müssen, daß es Abweichungen und Umbildungen
gibt, die in ihrer Eigenart zu erklären und zu be-
Staat, der mittelalterliche.
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gründen sind. So kann man gewiß davon reden,
daß der Feudalismus das Mittelalter kennzeichnet,
ohne dabei die Eigenart des fränkisch-karolingi-
schen Einheits- und Beamtenstaats als Sonder-
erscheinung zu übersehen. Die karolingische Theo-
kratie wird ebenfalls als eine Eigenart des mittel-
alterlichen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche
leicht ernannt werden. Ebenso wird man auf das
Fehlen der staatsbürgerlichen Toleranz bei der
Charakterisierung der mittelalterlichen Staats-
wesen hinweisen, obwohl ja diese Auffassung des
Glaubensstaats noch lange in der Neuzeit herrschte.
Der mittelalterliche Staatstyp läßt sich charakte-
risieren in der Art des staatlichen Verbands, in
seinem Verhältnis zur Kirche und Religion, in dem
Umfang und der Art der Staatsbetätigung.
2. Der antike Staat wie der moderne geben
sich begrifflich als ein in sich einheitlich geschlossenes
Gebilde, so viele Träger auch an der Bildung des
Staatswillens beteiligt sind. Im Gegensatz dazu
ist der mittelalterliche Staat ein in
sich gespaltener.
Das Vorbild der antiken Staatseinheit mit
seiner straffen Zentralisation blieb zwar bei der
mittelalterlichen Staatenbildung nicht ohne Ein-
fluß. Aber die Versuche ähnlich einheitlich organi-
sierter Reiche konnten sich auf die Dauer nicht
halten. Daran war schon der Umstand schuld, daß
die mittelalterlichen germanischen Staaten keinen
Mittelpunkt hatten; sie waren nicht Stadtstaaten,
wie die antiken in Griechenland und Rom, son-
dern Landstaaten, „die ein persönliches, aber kein
dingliches Zentrum hatten. Der Sitz des Fürsten
ist etwas Zufälliges, von der staatlichen Organi-
sation gänzlich Unabhängiges. Damit ist aber von
vornherein ein Mangel an Zentralisation gegeben.
Straffe Organisation eines auf eine weite Fläche
ohne bedeutendere Zentren verteilten Volks stößt
namentlich in einer Zeit unentwickelten Kommuni-
kationswesens und überwiegender Naturalwirt-
schaft auf die größten Schwierigkeiten, und die
dahin zielenden Versuche, so vor allem die karo-
lingische Grasschaftsverfassung, bleiben ohne
dauernden Erfolg“ (Jellinek, Allgemeine Staats-
lehre 1:1905|] 311).
Zum Dualismus, der der germanischen Staaten-
bildung von Anfang an eigen gewesen (in der
Rechtsbildung und im Gericht: Königsrecht und
Volksrecht), gesellte sich nun der Dualismus der
neu auflebenden Stammesgewalten. Vollendseiner
Einheit beraubt wurde der mittelalterliche Staat
durch die Durchsetzung mit dem Lehnswesen, der
Feudalität. Es bedeutete dies geradezu eine Ver-
privatrechtlichung des Staats. Dazu gesellten sich
in der Folge zu den vom Staat unabhängigen
öffentlichen Gewalten, wie sie durch die Feudali-
sierung der königlichen Amter und die spätere Fort-
bildung der Immunitäten geschaffen wurden, noch
die unabhängigen Städte. Es war schließlich eine
wahre Zersplitterung der öffentlichen Gewalten,
gegen die freilich der Versuch einer Reaktion einsetzen